Das letzte Sakrament
musste lächeln, obwohl er nichts Ungesetzliches tat, ja, er tat nicht einmal etwas, das gegen die Regeln des Ordens verstieß. Im Augenblick zumindest.
Er trank lediglich einen Cognac und flog nach Neapel, genau wie besprochen. Dass dieses Kreuz in seinem Gepäck war, durfte Bischof Obrist natürlich nicht wissen, niemand durfte das wissen! Niemals!
Nur dann würde sein Plan funktionieren, ohne dass er selbst in den Abgrund gerissen würde. Doch auch dieses Risiko würde er notfalls eingehen. Er würde alles tun, wenn es dem einen Ziel diente. Seinem Körper, der durch die lange Ordenszeit offenbar verweichlicht war, würde er das auch noch beibringen. Es gab Wichtigeres als sein eigenes Überleben oder das Überleben der anderen. Es gab sogar Wichtigeres als das Überleben des Ordens. Es ging um das große Ganze!
Irgendwann würde auch der Bischof erkennen, warum er es getan hatte. Dann endlich würde dieser von Zweifeln geplagte Mann wieder sehen können! Denn nur wer sah, konnte auch führen! Doch noch war es nicht so weit, noch musste er den Bischof führen und gegen dessen Ängste und dessen Zögerlichkeit ankämpfen. Hätte Kunen ihm offen gesagt, was er vorhatte, hätte Obrist ihm die Reise untersagt. Und nicht nur dass, er hätte ihn aus dem Orden ausschließen lassen und wahrscheinlich sogar die Polizei verständigt. Aber der Bischof musste ja nicht alles wissen. Es genügte, wenn Gott alles wusste. Und dass Gott seinen Weg guthieß, hatte er vor weniger als einer Stunde bei der Gepäckkontrolle bewiesen.
Kunen spürte plötzlich, dass er keine Angst mehr haben musste. Er lächelte zufrieden, schwenkte noch einmal den Plastikbecher und trank ihn dann mit einem einzigen Schluck leer. Als die Stewardess an seinem Platz vorbeiging, war Kunen versucht, noch einen Drink zu bestellen, aber dann hielt er sich zurück. Ein wenig Anregung und Zerstreuung war gut, aber er wollte sich nicht betäuben. Er wollte alles erleben, jeden Moment in sich aufsaugen. Denn war er erst an seinem Ziel angekommen, könnte jeder Augenblick der letzte sein.
Der Vikar nahm die in Leder gebundene Taschenbibel zur Hand, die er für den Flug bereitgelegt hatte. Zielsicher schlug er sie beim Fünften Buch Mose auf, auch Deuteronomium genannt, Zweite Gesetzgebung. Schnell hatte er die richtige Stelle gefunden.
»Wenn es sich um einen Mann handelt, der mit einem andern verfeindet war, wenn er ihm auflauerte, ihn überfiel und tödlich traf, sodass er starb, und wenn er in eine dieser Städte floh, dann sollen die Ältesten seiner Stadt ihn von dort holen lassen und in die Gewalt des Bluträchers geben und er soll sterben. Du sollst in dir kein Mitleid mit ihm aufsteigen lassen. Du sollst das Blut des Unschuldigen aus Israel wegschaffen und es wird dir gut gehen.«
War er dieser Bluträcher? Anstelle des Bischofs? Ging es dem Bischof überhaupt um Rache? Kunen wusste es nicht. Sie hatten sich immer nur über die Bedeutung von Roland Obrist unterhalten, darüber, warum der Bruder des Bischofs hatte sterben müssen, und darüber, was er über den Jesusklon gewusst hatte. Aber sie hatten sich nie über die Gefühle des Bischofs unterhalten. Über die Gefühle des Mannes, der seinen einzigen Bruder verloren hatte.
Doch waren sie und ihre Gefühle überhaupt noch wichtig? In einer Situation, in der alles auf dem Spiel stand? In der sich die katholische Kirche der größten Bedrohung seit mehr als fünfhundert Jahren gegenübersah? Wenn man die Geschichte nüchtern betrachtete, war die Kirchenspaltung im sechzehnten Jahrhundert eine Folge der damaligen katholischen Politik gewesen. Die Spaltung war in ihrem Kern keine Frage des Glaubens gewesen, sondern eine Frage der Macht. Man hatte an denselben Gott, dieselbe Dreifaltigkeit, dieselben Heiligen geglaubt. Doch die Autorität des Papstes war nicht mehr von allen Gläubigen anerkannt worden. Die heute bestehenden Unterschiede zwischen den Konfessionen hatten sich erst mit der Zeit entwickelt, aus Gründen der gegenseitigen Abgrenzung. Und so war die Kirchenspaltung doch noch zu einer Frage des Glaubens geworden.
Jetzt hingegen ging es nicht um Autorität, Macht oder irgendwelche Dogmen und Riten. Nein, es ging um den Kern des Glaubens! Um nichts anderes! Es ging um eine einzige Frage. Die Frage, die alles beantwortete: Gibt es tatsächlich einen neuen Heiland?
Gab es ihn, hatte der alte Glaube ausgedient. Ja, es gäbe einen neuen Glauben, mit einem neuen Propheten und neuen Geboten.
Eine
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