Das letzte Sakrament
Angewohnheit nach, die er eigentlich nur Klatschtanten zuschrieb. In der Zeit, die den Damen zwischen Schminken, Essen und Bridgespielen blieben, warteten sie vor den Stellwänden, an denen unzählige Fotos hingen. Fotos, die Schiffsfotografen von den Passagieren geschossen hatten und die hier zum Kauf angeboten wurden. Zu einem Preis, für den der Begriff Wucher mehr als verharmlosend war. Daher kauften die Damen die Fotos auch nicht, sondern standen in Grüppchen zusammen und kommentierten sie mehr oder eher weniger intelligent.
Wismut ging meist erst nachmittags zu den Stellwänden, also dann, wenn die Damen sich dem Kuchenbüfett widmeten. Manchmal tauchte er auch spät abends auf, während die meisten Gäste in ihren Betten schnarchten oder das Erbe ihrer Kinder im Casino verspielten.
Die Fotos wurden mehrmals täglich aktualisiert, und natürlich hingen dort auch die Aufnahmen der neu angekommenen Gäste. Jedes Bild, das Wismut noch nicht kannte, betrachtete er genau. Er tat dies natürlich nicht aus Neugierde oder aus Tratschsucht, sondern um zu kontrollieren, ob er abgelichtet worden war.
Denn die Bordfotografen waren überall, und sie waren jederzeit bereit, auf den Auslöser zu drücken. Doch das konnte auch von Vorteil für ihn sein. Sobald er sich auf einem Foto entdeckte, selbst wenn es nur im Hintergrund war, kaufte er es. Damit verschwand es von der Stellwand, und er war wieder inkognito unterwegs. Abends, wenn er allein an der Reling stand, verbrannte er die Bilder und ließ die Asche in den Ozean rieseln.
Er wusste, das war riskant. Aber in der Kabine fehlte ihm die Freiheit, die er hier, mitten auf dem Meer, spüren konnte. Die Schönheit der Natur, die sich selbst in der dunkelsten Nacht zeigte, in der man nichts als das endlose Wasser sah. In solchen Momenten konnte er verstehen, warum manche diese Schönheit als Ergebnis einer Schöpfung sahen. Warum manche glaubten, es gebe einen Gott, der das alles erschaffen habe.
Doch wenn ein Tsunami, wie der am zweiten Weihnachtsfeiertag, fast eine Viertelmillion Menschen dahinraffte, dann wollten diese Menschen plötzlich nichts mehr davon wissen, dass ihr Gott diese Erde mit all ihren Fehlern erschaffen hatte. Für solche Katastrophen war der Allmächtige natürlich nicht verantwortlich, denn er war ja der liebe Gott. Und der liebe Gott hatte mit der Natur auf einmal nichts mehr zu tun, die er doch in allen Details aus dem Nichts erschaffen hatte. Die Natur, die nicht nur schön, sondern auch grausam sein konnte. Sogar grausamer als die Menschen.
Die Spanische Grippe hatte zwischen 1918 und 1920 fünfundzwanzig Millionen Todesopfer gefordert, der Erste Weltkrieg trotz aller Brutalität aber nur siebzehn Millionen. Hatte die Pest von 1347 bis 1353 noch ein Drittel der europäischen Bevölkerung vernichtet, so hatte der furchtbarste aller Kriege, der Zweite Weltkrieg, nicht einmal jeden zehnten Europäer dahingerafft.
Natürlich konnte man diese Fakten in der Öffentlichkeit nicht diskutieren. Meist kam es zum Eklat, wenn man solche Zahlen sprechen ließ. Doch ein Toter war nicht mehr oder weniger wert als ein anderer. Er war und blieb tot, ob nun grausam ermordet oder friedlich entschlafen. Ob von Menschenhand getötet oder von der Hand eines vermeintlichen Gottes.
Je länger der Professor sich mit diesem Thema befasste, desto mehr waren ihm die Beliebigkeitsgläubigen zuwider. Diese scheinbar Gläubigen, die sich aus ihrer Religion die Rosinen herauspickten. Die nur in die Kirche gingen, um ihr Gewissen zu beruhigen. Mit ihrer Scheingläubigkeit gaben sie all denen ein Alibi, die den Glauben für ihre eigenen Zwecke benutzten.
Die wahren Gläubigen, die in aller Stille beteten, waren nicht seine Gegner. Sie wollten andere nicht unterjochen und betrieben keine Machtspiele. Sie verstanden den Glauben als ihre persönliche Aufgabe und nicht als die der anderen. Ja, er verspürte beinahe Respekt vor dieser selbstlosen Gläubigkeit. Auch weil er wusste, dass er diese Gläubigen nicht würde bekehren können.
Wismut blickte auf seine Armbanduhr. Er trug sie immer noch rechts, obwohl man ihn damals im Jesuitenkolleg zum Rechtshänder umerzogen hatte. Und nicht nur dazu: auch zu Demut, Obrigkeitshörigkeit und bedingungslosem Gehorsam dem Orden und dem Papst gegenüber. Vielleicht war er deswegen Wissenschaftler geworden, weil in der Wissenschaft die Fakten regierten und nicht die Willkür.
Und Fakt war, er musste der Fotowand einen Besuch abstatten.
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