Das letzte Theorem
Mahlzeit an den Strand gehen durften. Ranjit, eine Tasse fast kalten Tees in der Hand, betrachtete stirnrunzelnd den Bildschirm. Darauf sah man die rührige Kolonie der Anderthalben, aufgenommen von den wenigen noch von Menschen kontrollierten Beobachtungssatelliten. Bereits während des Frühstücks hatte Ranjit versucht, aus den Szenen, die sich in der Kattara-Senke abspielten, schlau zu werden.
Wenn Myra sich überhaupt Gedanken darüber machte, wieso ihr Mann den Bildschirm gar nicht mehr aus den Augen lassen konnte, dann fragte sie sich, was genau ihn an diesem Gewimmel mitten in der Wüste so zu faszinieren vermochte. Sie selbst war damit beschäftigt, die an diesem Morgen eingehenden E-Mails zu lesen. Sie hielt ihren Handcomputer hoch, um den Text besser entziffern zu können, und rief Ranjit zu: »Harvard fragt an, ob du nicht Lust hättest, anlässlich der feierlichen Verleihung der akademischen Grade eine Rede zu halten. Ach, und hier ist eine Nachricht von Joris. Er sagt, sie erhielten immer noch Morddrohungen, aber wenn die Satanisten wirklich planen, den Skyhook zu attackieren, dann sind sie mindestens zwanzig Kilometer vom Terminal entfernt. Und hier … Was hast du? Was ist denn jetzt los?«
Ranjit hatte ein erschrockenes »Huh!« ausgestoßen, und Myra mitten im Satz unterbrochen. Als sie auf seinen Bildschirm
spähte, wusste sie, was ihn derart schockierte. Das vom Satelliten gesendete Luftbild war verschwunden, die Aliens beanspruchten diesen Kommunikationsweg wieder für sich, und auf dem Monitor erschien eine vertraute Gestalt. Hinter Myra blies ihre Tochter ärgerlich den Atem aus und schnauzte: »Verdammt nochmal! Das bin ja schon wieder ich!«
In gewissem Sinne. Zumindest zeigte sich dort diese ewig gleichbleibende Natasha, in der makellos sauberen Unterwäsche, die kleine, unbotmäßige Locke über dem linken Ohr, die man zig-mal gesehen hatte, seit die Welt, wie die Menschen sie kannten, quasi auseinandergefallen war.
Myra seufzte: »Ich wünschte, du hättest ein bisschen mehr Kleidung an.« Zum Glück sah sie nicht zu Natasha hin, die ihre Mutter mit einem niederschmetternden Blick strafte. Dann begann die Gestalt zu sprechen.
»Ich überbringe eine Botschaft von den Personen, die sich als die Anderthalben identifiziert haben und derzeit in der sogenannten Kattara-Senke auf eurem Planeten Erde weilen. Folgendes soll ich euch mitteilen:
›Wir bedauern zutiefst, dass wir den Tod von Menschenwesen verursacht haben, als wir einen Angriff gegen unsere Kolonie vereitelten. Als Wiedergutmachungsleistung bieten wir eintausend metrische Tonnen Goldmetall an, mit einem Feingehalt von 999,5. Aber wir benötigen neunzig Tage, um das Gold aus dem Meerwasser zu gewinnen. Wir erbitten eine Bestätigung, ob dieses Angebot akzeptiert wird. Das ist das Ende der Botschaft.‹«
Die Gestalt verschwand, und die im prallen Sonnenlicht blitzenden Strukturen der Kolonie tauchten wieder auf. Ranjit drehte sich um und sah seine Frau und seine Kinder an. »Es scheint, als hätten sie einen ganzen Vorrat von Natasha-Kopien angelegt, um ihre Anliegen an die Menschen zu übermitteln.«
Myra lächelte. »Das ist gut möglich, aber viel wichtiger ist doch, was diese Wesen gerade bekanntgegeben haben. Das
klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Wenn sie zu Wiedergutmachungen bereit sind, dann zeugt das doch von der Absicht, mit den Menschen in Frieden zu leben. Jedenfalls gibt es Anlass zu Hoffnung.«
Ranjit nickte gedankenverloren. »Weißt du, die letzte erfreuliche Nachricht liegt schon so lange zurück, dass wir diese Ankündigung feiern sollten. Wie wär’s mit einem Drink?«
»Dafür ist es doch viel zu früh«, lehnte Natasha ab. »Außerdem trinkt Robert überhaupt keinen Alkohol und ich nur sehr mäßig. Ihr beide könnt natürlich trinken, so viel ihr wollt. Ich gehe jetzt mit Robert an den Strand.«
»Und ich werde mal im Büro anrufen. Ich bin gespannt, was Davodbhoy zu dieser Mitteilung sagt«, erklärte Ranjit und küsste Myras Hand.
»Dann verzieht euch, ich bleibe noch ein Weilchen hier sitzen«, erwiderte Myra. Nachdem sie allein war, dachte sie eine Zeit lang in aller Ruhe nach. Schließlich seufzte sie, schenkte sich eine weitere Tasse Tee ein und leistete sich den Luxus, in dem Gefühl zu schwelgen, dass sich die Zustände auf der Welt bald wieder normalisieren würden.
Allerdings konnte sie die Befürchtung, es könnte doch noch zu einer Katastrophe kommen, nicht gänzlich aus ihren
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