Das letzte Theorem
Gedanken verdrängen. Doch diese Ängste waren halbwegs erträglich geworden und hinderten sie nicht mehr daran, ihren alltäglichen Beschäftigungen nachzugehen. Sie glichen dem gelegentlichen schmerzhaften Ziehen in einem Backenzahn, das einen daran erinnert, endlich einen Termin beim Zahnarzt zu arrangieren - nicht unbedingt für diesen Monat, aber vielleicht für den nächsten.
Also widmete sich Myra wieder den E-Mails. Eine stammte von ihrer Nichte Ada Labrooy. In begeisterten Worten ließ sie sich über die Spezies aus, die unter der Bezeichnung »Maschinenbewohner« bekannt war. Sie fand, diese Wesen glichen in gewisser Weise der Künstlichen Intelligenz, mit der sie sich fast ihr ganzes Leben lang beschäftigt hatte und um die ihre gesamte
Forschungsarbeit kreiste. Sie fragte an, ob es für Natasha vielleicht möglich wäre, weitere Details über diese Wesen auszukundschaften.
Ungefähr ein Dutzend anderer Leute hatten E-Mails mit einem ähnlichen Inhalt geschickt. Alle glaubten, so wie Ada, dass die reale Natasha in der Lage sein müsste, auf irgendeine Weise mit den Aliens zu kommunizieren. Eine E-Mail stammte vom Tempel in Trincomalee und übermittelte die bedrückende Nachricht, dass der alte Mönch, Surash, den letzten chirurgischen Eingriff den Umständen entsprechend recht gut überstanden hätte, doch ob er sich tatsächlich noch einmal erholen würde, blieb gelinde ausgedrückt zweifelhaft.
Die Lippen nachdenklich geschürzt, las Myra den Besorgnis erregenden Text ein zweites Mal durch. Surash hatte sie selbst angerufen und ihnen von dieser Operation erzählt, doch er hatte so getan, als handele es sich um einen läppischen Eingriff wie eine Tonsillektomie. Der E-Mail nach zu urteilen war es ein Eingriff auf Leben und Tod gewesen. Resigniert blies sie den Atem aus, klickte die nächste Nachricht an …
Und stutzte.
Die Mail war an Ranjit persönlich adressiert. Der Absender war Orion Bledsoe, und sie lautete:
Ich möchte daran erinnern, dass Ihre Tochter, die amerikanische Staatsbürgerin Natasha de Soyza Subramanian, laut dem Einberufungsgesetz von 2014 der allgemeinen Wehrpflicht unterliegt. Dieses Schreiben ist ein Stellungsbefehl. Innerhalb der nächsten acht Tage hat Ihre Tochter sich zwecks Musterung bei einer beliebigen Einheit der US-Streitkräfte zu melden. Eine Missachtung dieser Aufforderung zieht strafrechtliche Konsequenzen nach sich.
Es war zu spät, um Natasha zurückzurufen und ihr von dem jüngsten Vorschlag für eine berufliche Karriere zu erzählen. Ranjit jedoch saß in Rufweite, und nachdem Myra ihn vom
Telefon weggeholt und ihm die E-Mail gezeigt hatte, entfuhr ihm ein »Huh!« Um zu verdeutlichen, was er damit meinte, legte er nach: »Verdammter Mist!«
Plötzlich hatten die Subramanians ein paar neue, völlig unerwartete Sorgen. Weder Ranjit noch Myra hatten je einen Gedanken daran verschwendet, an welchem geografischen Ort ihre Tochter zur Welt gekommen war. Im Traum wären sie nicht daraufgekommen, dass die Tatsache, dass sie auf amerikanischem Territorium geboren worden war, diesem Staat das Recht verlieh, sie zum Militärdienst einzuziehen. Ihnen fiel nur ein einziger Weg aus ihrem Dilemma ein, und den nahmen sie in Angriff.
Als Ranjit sich mit einer dringenden Bitte um Hilfe an Gamini Bandara wandte, erwiderte sein alter Freund zuerst, er solle sich ein Weilchen gedulden; nach ein paar Minuten meldete er sich wieder, entschuldigte sich für die Verzögerung und ließ ihn dann ziemlich lange warten.
Doch als er endlich wieder in der Leitung war, klang er erleichtert. »Bist du noch dran? Gut. Nun ja, ich habe mit meinem Vater gesprochen, und er telefoniert schon mit seinen juristischen Beratern. Du sollst sofort hier rüberkommen, meint er.« Er legte eine kurze Pause ein, und beinahe verlegen fuhr er fort: »Das Problem ist dieses alte Ekel, Bledsoe. Wir müssen über diesen Typen reden, Ranj. Dad schickt euch ein Flugzeug - ach so, bring Myra mit. Und Natasha. Und Robert natürlich auch. Wir freuen uns schon auf euren Besuch.«
Die Maschine, die noch am selben Abend eintraf, um sie abzuholen, war nicht annähernd so groß oder so pompös wie das Flugzeug, mit dem man Ranjit nach seiner außerordentlichen Auslieferung an irgendeine obskure Macht gerettet hatte. Nur eine einzige Stewardess bediente sie, und die war bei weitem nicht so hübsch wie die beiden anderen, trotzdem erlebten sie eine kleine Sensation. Ein alter Freund stand in der Tür, um sie zu
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