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Das letzte Theorem

Das letzte Theorem

Titel: Das letzte Theorem Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pohl Clarke
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Nachrichtensprecher den Namen des Verdächtigen preisgab: Kirthis Kanakaratnam.
    Für Ranjit bedeutete das den nächsten Tiefschlag. Der Name kam ihm bekannt vor, aber er vermochte ihn nicht einzuordnen. Wo hatte er ihn schon mal gehört? In der Universität? Im Tempel seines Vaters? Er hätte ihn überall aufschnappen können, und obwohl er sich den Kopf zermarterte, konnte er ihn mit keinem Gesicht verbinden. In einer späteren Nachrichtensendung, die lange nach dem Mittagessen ausgestrahlt wurde, als Ranjit seine Bemühungen, sich zu erinnern, schon fast aufgegeben hatte, hieß es, der Verdächtige hätte eine Ehefrau und vier kleine Kinder.
    Ranjit sagte sich, dass ihn das Ganze überhaupt nichts anginge. Doch im Grunde war er nicht davon überzeugt, denn solange er nicht daraufkam, was es mit diesem Kirthis Kanakaratnam auf sich hatte, konnte er nicht wissen, ob dieser Mann ihm nicht in irgendeiner Hinsicht einmal so etwas wie ein Freund gewesen war.
    Also gab er sich einen Ruck und rief bei der Polizei an. Er wählte die Nummer des Präsidiums, und er suchte sich ein Telefon
in einem Teil des Campus aus, in dem er sich nur selten aufhielt. Es meldete sich eine Frau; der Stimme nach war sie schon etwas älter und nicht gewohnt, Auskünfte zu geben. Ob ein gewisser Kirthis Kanakaratnam inhaftiert worden sei? Schon möglich. Die Gefängnisse in Colombo seien voll mit Häftlingen, aber die gäben nicht immer ihre richtigen Namen an. Könnte der Anrufer vielleicht weitere Einzelheiten über die betreffende Person nennen? Zum Beispiel die Namen der Leute, mit denen er Umgang pflegte? War der Anrufer mit ihm verwandt? Oder ein Geschäftspartner? Oder …
    Ranjit hängte eilig den Hörer ein und suchte schleunigst das Weite. Eigentlich glaubte er nicht, dass jeden Moment ein Trupp Polizisten durch den Flur gestürmt käme, aber hundertprozentig sicher war er sich keineswegs, und er hatte nicht die Absicht, noch länger an dieser Stelle herumzutrödeln, um herauszufinden, ob er sich unnötig Sorgen machte oder nicht.
     
    Als Ranjit sich an diesem Abend in sein Zimmer zurückzog, wartete etwas auf ihn, das beinahe so gut war wie Gaminis persönliche Anwesenheit - nämlich eine E-Mail aus London. (Es lag auch eine Benachrichtigung vor, dass Ranjits Vater angerufen und um einen Rückruf gebeten hätte; darüber freute sich Ranjit sehr, denn wenigstens schien sein alter Herr gewillt zu sein, wieder mit ihm zu sprechen. Trotzdem öffnete er zuerst Gaminis E-Mail.)
    Es hatte ganz den Anschein, als würde sein Freund sich in England herrlich amüsieren. Erst gestern (schrieb er) sei er zum Campus des University College spaziert, weil Madge ihm dort etwas zeigen wollte. Nun ja, es war schon recht interessant, vorausgesetzt, man sah sich gern die Leichen längst verstorbener Leute an. Denn dort wurde der nach den Methoden der neuseeländischen Maori mumifizierte und mit einem Wachskopf versehene Leichnam des englischen Philosophen Jeremy Bentham aufbewahrt, der vor rund zweihundert Jahren den klassischen Utilitarismus begründete. Er sei immer dort,
erklärte Gamini, allerdings weggesperrt in einem hölzernen Schrank. Seinen präparierten Körper hätte er selbst als »Auto-Ikone« bezeichnet und vorgeschlagen, jeder Mensch solle von sich durch »Auto-Ikonisiserung« ein Abbild herstellen lassen und es der Nachwelt vermachen. Ein Mitglied der Fakultät, ein junger Mann, der total in Madge verknallt sei, hätte ihr zu Gefallen den Schrank aufgesperrt, damit sie einen Blick hineinwerfen konnten. Dieser Bentham, fuhr Gamini fort, sei für das frühe 19. Jahrhundert ein geradezu modern anmutender Denker gewesen. Er hatte sogar ein Schriftstück verfasst, in dem er mit sorgfältig durchdachten Argumenten für Toleranz - na ja, zumindest für ein bisschen Toleranz - gegenüber Homosexuellen plädierte. Bentham habe revolutionäre Thesen vertreten, fügte Gamini hinzu, sei aber ziemlich vorsichtig gewesen. Diese Schrift hatte er nicht veröffentlicht, sondern weggeschlossen, und erst anderthalb Jahrhunderte später, 1978, ließ jemand sie endlich drucken.
    Mittlerweile war es Ranjit leid, über Jeremy Bentham zu lesen, und ein wenig neugierig, warum Gamini sich so wortreich darüber ausließ. Lag es vielleicht daran, dass Bentham zu den ersten bedeutenden Persönlichkeiten gehörte, die mit einer gewissen Sympathie über Homosexuelle schrieben? Und wenn ja, was wollte er Ranjit zu diesem Thema mitteilen? Worin lag seine Botschaft?

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