Das letzte Theorem
Philosophieunterricht über sich ergehen lassen, der immerhin eine Stunde und fünfzig Minuten dauerte. Danach schlang er hastig sein Mittagessen hinunter, ein ekelhaftes Sandwich, das er mit einem lauwarmen, völlig geschmacklosen Saft, der in einen Beutel abgepackt war,
hinunterspülte, denn wenn er den Zwei-Uhr-Bus zur Bibliothek erwischen wollte, musste er sich beeilen.
Aber gleich vor der Mensa traf er seinen Sitznachbarn aus dem Astronomiekurs, der dort mit ein paar Kommilitonen beisammenstand, und der sprach Ranjit an. »Ich glaube, du hast nicht mehr mitgekriegt, was Dr. Vorhulst beim nächsten Mal besprechen will. Ich erzähle gerade meinen Freunden davon. Es geht um das Artsutanov-Projekt. Vorhulst glaubt, es könnte hier bei uns realisiert werden! In Sri Lanka! Denn gerade hat die Weltbank verlauten lassen, es wäre der Antrag an sie gestellt worden, eine Studie über ein Terminal in Sri Lanka zu finanzieren!«
Ranjit wollte gerade den Mund aufmachen, um zu fragen, was das Ganze zu bedeuten hätte, als jemand einwandte: »Aber du sagtest doch, es würde vermutlich abgelehnt, Jude.«
Jude blickte plötzlich ernüchtert drein. »Ja, leider wird es wohl dazu kommen«, gab er zu. »Das liegt an den verdammten Amerikanern, den verdammten Russen und den verdammten Chinesen. Die haben die Macht - und das notwendige Geld, um so ein Projekt durchzuziehen. Höchstwahrscheinlich werden sie sogar dafür sorgen, dass es total abgeblasen wird, denn sobald der erste Artsutanov-Lift in Betrieb genommen wird, kann jedes x-beliebige kleine Land auf der Welt sein eigenes Raumfahrtprogramm entwickeln. Sogar wir! Und dann wäre es aus mit ihrem Monopol! Meint ihr nicht auch?«
Ranjit blieb die Peinlichkeit erspart, eingestehen zu müssen, dass er darauf keine Antwort wusste - und obendrein nicht mal eine Ahnung hatte, wovon Jude überhaupt sprach -, weil die Gruppe der Singhalesen plötzlich Hunger verspürte. Und später in der Bibliothek - via Suchmaschinen - sog Ranjit Informationen mit Höchstgeschwindigkeit in sich auf. Je mehr er über das Thema erfuhr, umso mehr teilte er Judes Begeisterung. Der erste Schritt, um von der Erdoberfläche in den LEO zu gelangen? Mit einem Artsutanov-Skyhook war das gar kein Problem.
Gewiss, Machbarkeitsstudien waren noch weit von einer realen Umsetzung des Projekts entfernt. Es ging darum, eine Art »Raumlift« zu bauen; Container beziehungsweise Kabinen sollten mittels einer Kabelkonstruktion in eine erdnahe Umlaufbahn befördert werden, und das mit hoher Geschwindigkeit, jedoch ohne die Millionen Liter hochexplosiven Treibstoffs, die derzeit noch erforderlich waren, um ein Raumfahrzeug aus dem Schwerkraftfeld der Erde herauszubringen. Der Plan mutete verwegen an, doch seine Realisierung lag durchaus im Bereich des Möglichen. Früher oder später würde dieser Skyhook bestimmt konstruiert werden, und vielleicht gehörte dann sogar er, Ranjit Subramanian, zu den Glücklichen, die als Raumtouristen den Mond umkreisen, zwischen Jupiters zahlreichen Monden kreuzen oder auf dem hoffnungslos öden, wüstenhaft trockenen Mars spazieren gehen konnten.
Mittels der Suchmaschinen fand Ranjit heraus, dass bereits Konstantin Ziolkowsy, ein russischer Pionier, was Ideen zur Raumfahrt betraf, das Konzept eines Skyhook entwickelt hatte. 1895 sah er den Eiffelturm in Paris, und in diesem Moment wurde der Gedanke geboren. Er behauptete, ein effektiver Weg, um ein Raumfahrzeug in den Orbit zu befördern, sei die Errichtung eines sehr hohen Turms mit eingebautem Aufzug; man müsse das Schiff zuerst bis zur Turmspitze hinaufkatapultieren, wo es sich dann lösen und die Fahrt aus eigener Kraft fortsetzen könne.
1960 las ein in Leningrad geborener Ingenieur namens Yuri Artsutanov Ziolkowskys Buch und merkte ziemlich schnell, dass dieses Konzept eines Orbitalturms nicht funktionieren würde. Diese Lektion hatten die alten Ägypter schon vor langer Zeit gelernt - und zweitausend Jahre später begriffen es die Maya auf der anderen Seite des Erdballs. Die Erkenntnis bestand darin, dass man einen Turm oder eine Pyramide nur bis zu einer bestimmten Höhe bauen kann, und dass diese Grenze durch die Kompression vorgegeben ist.
Bei einer Kompressionsstruktur - das heißt, einer Struktur, deren Basis auf dem Erdboden ruht - muss jede Schicht den Druck aller darüber liegenden Schichten aushalten. Um eine niedrige Erdumlaufbahn zu erreichen, müsste ein Turm mehrere Hundert Kilometer hoch sein, und kein
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