Das letzte Theorem
Denn keiner von beiden hielt sich selbst für homosexuell, so etwas hätten sie weit von sich gewiesen.
Es bereitete ihm ein leichtes Unbehagen, über diesen Aspekt genauer nachzudenken, und er las weiter. Obwohl der Brief schon bald zu Ende war. Ein paar von Gaminis Kommilitoninnen und Kommilitonen - Madges Name tauchte nicht auf, aber Ranjit hätte eine hohe Summe darauf gewettet, dass sie mit von der Partie war - hatten einen Tagesausflug nach Stratford-upon-Avon unternommen. Und ganz zum Schluss, als sei es ihm gerade noch eingefallen, ließ Gamini dann die Bombe platzen: »Ach so, eigentlich müsste ich noch ein paar Sommerkurse
absolvieren, aber Dad möchte, dass ich in diesem Sommer für ein paar Tage nach Hause komme, damit ich meine Großmutter noch einmal sehen kann, ehe sie von uns geht. Er befürchtet, sie wird nicht mehr lange leben. Also werde ich für kurze Zeit in Lanka sein. Wo bist du dann? Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, nach Trinco zu fahren - aber vielleicht können wir uns irgendwo anders treffen?«
Wenn das nicht eine großartige Neuigkeit war! Super! Das Einzige, was Ranjits stiller Begeisterung einen Dämpfer aufsetzte, war das bevorstehende Telefonat mit seinem Vater.
Beim ersten Klingelton hob der alte Herr ab. Seine Stimme klang fröhlich, als er sagte: »Ah, Ranjit« - liebevoll, erfreut, als er hinzufügte -, »warum hast du vor deinem Vater Geheimnisse? Du hast mir nicht erzählt, dass Gamini Bandara nach England gegangen ist!«
Obwohl keiner zugegen war, der ihn hätte sehen können, verdrehte Ranjit die Augen. Wenn er seinem Vater diese Neuigkeit nicht mitgeteilt hatte, dann hauptsächlich deshalb, weil er davon ausging, die Spitzel seines Vaters würden ihm schon die Nachricht zutragen. Er wunderte sich nur, dass dieser Vorgang so lange gedauert hatte. Einen Moment lang überlegte Ranjit, ob er erwähnen sollte, dass Gamini für einen Blitzbesuch nach Hause käme, doch er entschied sich dagegen, weil er dem Personal des Studentenheims nicht die Arbeit abnehmen wollte. Vorsichtig erwiderte er: »Ja, er studiert dort. An der London School of Economics. Ich glaube, sein Vater hält sie für die beste Ausbildungsstätte der Welt.«
»Bestimmt ist sie das«, pflichtete sein Vater bei, »zumindest für bestimmte Fächer. Ich kann mir denken, wie sehr du Gamini vermisst, Ranjit, aber trotzdem muss ich dir sagen, dass mir ein Stein vom Herzen gefallen ist, als ich diese Nachricht bekam. Für mich ist dadurch ein großes Problem aus der Welt geschafft. Wenn zwischen euch ein ganzer Ozean liegt, kann dich keiner mehr wegen deiner Freundschaft mit einem Singhalesen scheel ansehen.«
Ranjit wusste nicht, was er darauf antworten sollte, und hielt vernünftigerweise den Mund. Sein Vater fuhr fort: »Weißt du, du hast mir sehr gefehlt, Ranjit. Kannst du mir verzeihen?«
Darüber brauchte Ranjit gar nicht erst nachzudenken. »Ich hab dich lieb, Vater«, entgegnete er prompt, »und es gibt nichts zu verzeihen. Ich kann deine Beweggründe verstehen.«
»Wenn das so ist«, legte sein Vater nach, »kannst du es dann einrichten und deine Sommerferien hier in Trinco verbringen?«
Ranjit versicherte ihm, es gäbe nichts, was er lieber täte, doch allmählich wurde ihm ein bisschen mulmig zumute. Das Gespräch nahm eine Wende, die ihm nicht behagte, und er fürchtete, auf tückisches Terrain zu geraten. Zum Glück fiel ihm eine Frage ein, um seinen Vater abzulenken. »Dad? Hier in Colombo wurde ein Mann aus Trinco verhaftet. Er heißt Kirthis Kanakataratnam, und der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Kannst du vielleicht was damit anfangen?«
Ganesh Subramanian stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus, und Ranjit hätte nicht sagen können, ob es an seiner Frage lag oder ob auch er froh war, das Thema ändern zu können. »Selbstverständlich sagt mir der Name etwas. Kirthis. Kannst du dich wirklich nicht an ihn erinnern? Er ist doch mein Mieter! Der mit den vielen kleinen Kindern und der kränkelnden Ehefrau. Er arbeitete als Busfahrer für eines der Hotels am Strand. Sein Vater fungierte im Tempel als eine Art Faktotum, bis er starb.«
»Ja, jetzt entsinne ich mich!«, rief Ranjit. Der Mann, über den sie sprachen, war genauso klein und von dunkler Hautfarbe wie er. Er wohnte mitsamt seiner Familie in dem winzigen Haus am Rand von Ganesh Subramanians Anwesen; zwei Erwachsene und vier Kinder drängten sich in drei Räumen, fließendes Wasser und Toilette gab es draußen. Ranjit hatte oft
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