Das letzte Theorem
da draußen. Im hinteren Teil des Hafens gewahrte er die dunklen Umrisse von zwei atomgetriebenen U-Booten, die vermutlich aus Indien stammten, und daneben sah er jede Menge anderer Schiffe. Fischerboote, natürlich, aber nicht von der Sorte, die mit einer vier bis fünf Mann starken Besatzung auskamen, und die man an sämtlichen Stränden rings um die Insel entdecken konnte. Hierbei handelte es sich um hochseetüchtige Trawler, die sich über hundert Kilometer weit vom Land entfernten, um dort kommerziell ergiebige Fischschwärme aufzuspüren. Es gab Frachter aller Typen und Größen, deren Ladung an Containern und Massengütern gerade gelöscht oder an Bord gehievt wurde. Und zu seinem Erstaunen sah Ranjit mehrere Schiffe einer gänzlich anderen Art - mit glänzend weißem Farbanstrich, wie Girlanden an Bootskränen hängenden Rettungsbooten
und vielen Reihen von Bullaugen. Tatsächlich, nun liefen wieder Kreuzfahrtschiffe in den Hafen von Trincomalee ein! Ranjit konnte nicht anders, er hielt den Wagen an, damit die Kinder sich dieses herrliche Bild in Ruhe anschauen konnten. Er erwartete Freudenschreie, und dass die Kids vor Begeisterung ganz aus dem Häuschen sein würden, doch stattdessen flüsterten sie sich nur gegenseitig irgendein nicht enden wollendes Getuschel in die Ohren.
Dot wollte von einer Pause nichts wissen. »Setzt euch wieder hin!«, befahl sie den Kindern. Und Ranjit erklärte sie: »Ich möchte so schnell wie möglich an meinem neuen Arbeitsplatz ankommen. Siehst du den Souvenirladen dort, wo die weißen Schiffe ankern? Ich glaube, da muss ich hin.«
Der Laden entpuppte sich als ziemlich schäbiger kleiner Kiosk, an dem kaum Betrieb herrschte. Ein paar ältliche Touristen in knallbunten Shorts und imitierten Hawaiihemden begutachteten müßig die Ansichtskarten und Plastikelefanten. Aber Dot Kanakaratnam bestand darauf, dass dies der richtige Ort sei, und ließ sich und die Kinder mitsamt dem ganzen Gepäck vor dem Kiosk absetzen. »Unsere Freunde kommen und holen uns ab«, versicherte sie. »Und jetzt musst du wieder umkehren, Ranjit.« Unvermittelt schlang sie ihre Arme um ihn und drückte ihn an sich. »Die Kinder werden dich vermissen, und mir wirst du auch fehlen!«, fügte sie impulsiv hinzu. Ein Kind nach dem anderen umarmte ihn. Und als Ranjit davonfuhr, sah er, dass alle weinten.
Er weinte natürlich nicht. Schließlich war er ein erwachsener Mann. Außerdem waren fremde Leute da, die ihn ansahen.
Ohne die Kinder, mit denen er sich unterhalten konnte, hatte Ranjit es nicht eilig, zu seinem Job auf der Baustelle zurückzukehren. Unweit des Kiosks befanden sich vier oder fünf kleine Restaurants und Imbissbuden, die auf Kundschaft von den Kreuzfahrtschiffen hofften. Er parkte den Wagen in der Nähe des Restaurants, das den am wenigsten abweisenden Eindruck
machte, bestellte sich eine Tasse Tee und brütete eine Weile darüber nach, wie schnell man kleine Kinder liebgewinnen konnte.
Er fand es seltsam, dass Dot zwar wusste, dass zu ihrer neuen Arbeit eine Wohnung gehörte, aber anscheinend keine konkrete Vorstellung davon hatte, wie der Job selbst aussah. Und er fing an, sich zu fragen, ob Dot ihm wirklich die Wahrheit gesagt hatte.
Doch dieser Verdacht war geradezu lächerlich. Welchen Grund konnte sie haben, ihn zu belügen? Als er das Restaurant verließ, blickte er in die Richtung des Kiosk, vor dem er die Familie zurückgelassen hatte.
Es war niemand mehr da.
In Gedanken wünschte er den Kanakaratnams alles Gute und viel Glück und fuhr in gemächlichem Tempo die Straße entlang, die um die Bucht führte. Dabei kam er an einem kleinen Frachter vorbei, von dem ein angenehmer Geruch ausging, denn die Ladung bestand aus Zimt, der für den Export bestimmt war. Daneben lag ein Containerschiff aus Singapur, dessen Fracht - vermutlich Autos, Computer und Haushaltsgeräte aus China - gerade gelöscht wurde.
Danach passierte er die Kreuzfahrtschiffe, die aus der Nähe betrachtet weit weniger imposant wirkten als aus einer gewissen Distanz. Sie machten sogar einen reichlich schmuddeligen Eindruck. Ein paar Passagiere, die offenbar keine Lust gehabt hatten, an den Besichtigungstouren zum Swami-Felsen oder dem Tempel seines Vaters teilzunehmen, vertrieben sich die Zeit damit, an der Reling der oberen Decks herumzulümmeln. Darunter befand sich ein kleines Mädchen, das ihm nun fröhlich zuwinkte …
Nein! Das war nicht irgendein kleines Mädchen! Es war die kleine Betsy
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