Das letzte Theorem
Könnten wir uns vielleicht zu einer Tasse Tee oder etwas Ähnlichem treffen?«
Unterschrieben war der Brief von Myra de Soyza.
Ranjit wartete nicht auf den Tee, den die Kanakaratnams ihm aufbrühen wollten. »Ich komme später nochmal zurück«, rief er, bereits auf dem Weg zur Tür.
Die Fahrt zum Hotel dauerte nicht länger als zwanzig Minuten. Schnurstracks hetzte er dann zur Rezeption, und die junge Frau, die dort ihren Dienst versah, hätte ihm gern weitergeholfen, doch letzten Endes konnte sie ihm auch nur mitteilen: »Oh, Ms. de Soyza und Mr. Harrigan sind gestern abgereist. Soweit ich weiß, wollten sie nach Colombo zurück.«
Als Ranjit wieder im Van saß, gestand er sich ein, wie sehr er es bedauerte, Myra de Soyza verpasst zu haben - und wie ungemein es ihn fuchste, dass sie und der Kanadier zusammen nach Trinco gekommen waren. In niedergeschlagener Stimmung kehrte er um, wobei er sich viel Zeit ließ. An der Stelle, an der er hätte abbiegen müssen, wenn er seinen Besuch bei den Kanakaratnams hätte fortsetzen wollen, hielt er kurz an, dann fuhr er in die andere Richtung. Einerseits fand er es interessant, wie es möglich gewesen war, dass Dots Ehemann aus einem staatlichen Gefängnis hatte fliehen können, und er hätte ganz gern mehr über den Vorfall erfahren. Und zum anderen hatte er sich darauf gefreut, den Kindern von seinem Ausflug nach Colombo zu erzählen. Nun ja, ein paar entscheidende Episoden hätte er natürlich ausgelassen.
Aber im Augenblick stand ihm nicht der Sinn nach einer wie auch immer gearteten Unterhaltung. Am liebsten wollte er für eine Weile allein sein, keinen Menschen sehen und mit niemandem reden.
Am nächsten Tag ging er zu seiner Arbeit zurück. Der Schwager des Bauleiters war über sein plötzliches Auftauchen alles andere als erfreut, doch als Ranjit später die Kinder abholte, strahlten sie dermaßen vor Glück, dass es alles wieder wettmachte. Und als er dann anfing, Geschichten zu erzählen, lauschten sie andächtig, wie die Könige von Kandy viele Jahre lang gegen die europäischen Eindringlinge gekämpft hatten (erst am selben Morgen hatte sich Ranjit mithilfe seines Computers über diese Epoche in Sri Lankas Historie informiert),
und schienen nicht die geringste Lust zu verspüren, über ihren entflohenen Vater zu sprechen.
Auch ihre Mutter schwieg sich über dieses Thema aus, zumindest während der nächsten paar Tage, und als er eines Morgens vorbeikam, um die Kids mitzunehmen, erlebte er eine Überraschung.
Dot Kanakaratnam saß am Tisch und stopfte allerlei Haushaltsgeräte in Säcke; sämtliche vier Kinder waren dabei, ihre eigenen kleinen Bündel zu packen. Als Dot Ranjits verblüffte Miene sah, lächelte sie breit. »Ich habe sehr gute Nachrichten, Ranjit! Ein paar alte Freunde haben mir eine Arbeitsstelle besorgt! Hier in Trinco, allerdings drunten beim Hafen. Ich weiß nicht genau, was ich machen muss, aber die Bezahlung soll ganz ordentlich sein, und eine Wohnung gehört auch noch dazu!«
Sie verstummte und blickte Ranjit an, als rechne sie mit irgendeiner Entgegnung. »Das - freut mich für Sie«, kommentierte er ihre Eröffnung und überlegte, was sie wohl von ihm erwarten mochte. Er wunderte sich ein bisschen, wieso sie nicht wusste, worin ihre zukünftige Tätigkeit bestand, aber er dachte sich, ihre Lage sei vielleicht so verzweifelt, dass sie einfach jeden Job annehmen würde. Aus lauter Höflichkeit verzichtete er darauf, nachzuhaken. »Wann fangen Sie an?«
»Sofort. Ich hätte da eine große Bitte an dich, Ranjit. Du darfst doch immer noch den Van deines Vaters benutzen, nicht wahr? Taxis sind furchtbar teuer. Könntest du uns vielleicht zum Hafen fahren?«
10
Ein neues Leben für die Familie Kanakaratnam
Er hatte Zugriff auf den Van, denn sein Vater hatte ihm erlaubt, damit zur Arbeit zu fahren, deshalb konnte er die Familie transportieren. Vorher musste er nur dem Bauleiter Bescheid sagen, dass er für ein paar Stunden verhindert sei, und sein Schwager noch einmal für ihn einspringen könne. Als er zu Dots Haus zurückkehrte, waren alle aufbruchbereit. Zwanzig Minuten später begannen die Kinder, die sich auf der hinteren Sitzbank des Van drängten, vor Aufregung zu kreischen, während Dot, die neben Ranjit saß, den sich nähernden Hafen anvisierte.
Seit in Sri Lanka Frieden herrschte, hatte sich das Erscheinungsbild des Hafens gründlich geändert. Gewiss, manches erinnerte immer noch an die von Unruhen geschüttelte Welt
Weitere Kostenlose Bücher