Das letzte Theorem
hatte er niemals gerechnet. Natürlich war er sich dessen bewusst, dass er seinen Mund ständig mit einer Hand bedeckte. Im ersten Moment verschlug es ihm vor Verblüffung die Sprache, aber Myra ließ nicht locker. »Sag mal, stört dich deine Zahnlücke so sehr? Ist es dir peinlich?«
»Ich muss unmöglich aussehen«, gab er zu.
»Blödsinn, Ranjit!«, versetzte sie. »Du siehst aus wie ein ehrlicher, anständiger und hochintelligenter Mann, der nur noch nicht dazugekommen ist, einen Zahnarzt aufzusuchen.« Sie schüttelte den Kopf. »Dieses Manko mit dem fehlenden Zahn lässt sich in null Komma nichts beheben, Ranjit. Nichts ist einfacher, als sich sein Gebiss sanieren zu lassen. Und danach siehst du nicht nur besser aus, du wirst auch weniger Probleme beim Kauen haben.« Sie stand auf. »Ich habe Tante Bea versprochen, höchstens zehn Minuten bei dir zu bleiben. Ach so, und ich soll dich fragen, ob du vielleicht Lust hättest, zur Abwechslung mal im Meer zu schwimmen. Am Nilaweli-Strand. Weißt du, wo das ist? Meine Familie besitzt dort ein kleines Strandhaus, und wenn es dir recht ist …«
Selbstverständlich war es Ranjit recht, sogar mehr als das. Die Aussicht, im Meer planschen zu können, stimmte ihn beinahe euphorisch. »Also gut, dann organisieren wir einen Ausflug dorthin«, sicherte sie zu. Dann beugte sie sich spontan zu ihm hinunter, und zu seiner großen Überraschung umarmte sie ihn. »Wir haben dich vermisst«, erklärte sie und rückte wieder von ihm ab, um ihn anzusehen. »Gamini hat mir erzählt,
du hättest dich nach seiner ehemaligen Freundin erkundigt. Möchtest du mir vielleicht eine ähnliche Frage stellen?«
»Huh«, entfuhr es ihm. Dann hatte er sich so weit gefasst, dass er fortfahren konnte: »Soll das eine Anspielung auf diesen Kanadier sein?«
Sie lächelte. »Was denn sonst? Tja, als ich das letzte Mal etwas von ihm hörte, hielt er sich gerade in Bora-Bora auf, wo seine Firma einen riesigen Hotelkomplex baute. Aber das ist schon lange her. Wir stehen nicht mehr in Kontakt.«
Ranjit hatte gar keine Ahnung gehabt, dass Gamini und Myra sich kannten. Noch erstaunlicher fand er, dass die beiden sich offenbar häufig und ausgiebig miteinander unterhielten. Aber er erfuhr noch manches, was ihn überraschte. Immer mehr Leute kamen, um ihn zu besuchen, und eines Tages traf sein Anwalt ein und brachte Dokumente mit, die er unterschreiben sollte.
»Den Nachlass Ihres Vaters zu regeln, ist gar nicht so kompliziert, wie es den Anschein hatte«, erläuterte er. »Aber Sie wurden als vermisst gemeldet, und irgendein Bürokrat ging davon aus, dass Sie tot seien. Jetzt müssen wir den Sachverhalt klären.«
Und dann erhielt er noch Besuch von der Polizei. Gegen Ranjit selbst würde keine Anklage erhoben, dafür hatte De Saram gesorgt, ehe er einer Befragung überhaupt zustimmte. Doch man benötigte noch Auskünfte über die Piraten, und Ranjit war der Einzige, der sie geben konnte.
In seinen Mußestunden grübelte er über Myra de Soyzas »autonome Prothesen« nach und fragte sich, was sie damit wohl gemeint hatte. Seine Suche im Internet fiel nicht sehr ergiebig aus. Sicher, er wusste jetzt, wie man den Begriff richtig schreibt, aber seine Vorstellungen, was Künstliche Intelligenz mit synthetischen Gliedmaßen oder Hörgeräten zu tun haben sollte, blieben vage.
Beatrix Vorhulst klärte ihn dann auf. »Oh, hier ist nicht von intelligenten Holzbeinen die Rede. Die Sache stellt sich viel
komplexer dar. Man arbeitet daran, winzig kleine Roboter herzustellen, die in die Blutbahn eines Menschen eingeschleust werden. Diese Roboter sind darauf programmiert, zum Beispiel Krebszellen zu erkennen und zu zerstören.«
»Huh«, entgegnete er, dachte über das Projekt nach und fand, es sei eine ausgezeichnete Idee. Es passte zu Myra de Soyza, sich auf diesem Gebiet zu engagieren. »Und wie weit ist man damit gekommen? Gibt es diese Miniroboter schon?«
Mevrouw Vorhulst lächelte traurig. »Nein, man steckt noch mitten in der Forschungsphase. Hätte es diese Roboter schon früher gegeben, wäre ich jetzt nicht Witwe. Leider fehlt es an den nötigen finanziellen Mitteln, um diese Wissenschaft zügig voranzutreiben. Selbst Myra wartet schon seit einer halben Ewigkeit darauf, dass man ihr Projekt unterstützt, aber bis jetzt ist noch rein gar nichts passiert. Oh, man steckt durchaus Geld in Forschung und Wissenschaft, und das sogar mit unvorstellbar hohen Summen - vorausgesetzt, es handelt sich um
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