Das letzte Theorem
wurde gestohlen, und jetzt soll ich die Eigner verklagen, weil sie nichts dagegen unternommen haben? Das finde ich nicht fair.«
Zum ersten Mal ließ De Saram sich zu einem freundlichen Schmunzeln hinreißen. »Dr. Bandara sagte bereits, dass Sie so reagieren würden«, erklärte er. »Und jetzt müsste mein Wagen bereit sein …«
Tatsächlich klopfte es in diesem Moment an der Tür. Es war Vass, der Butler, der genau das ankündigte. Und ehe Ranjit etwas sagen konnte, wandte sich der Butler direkt an ihn. »Für Sie sind keine Briefe eingetroffen, Sir. Wenn ich mir die Freiheit erlauben darf, Sir …«, fügte er hinzu, »ich wollte Sie vorher nicht darauf ansprechen - wir alle hier waren sehr betroffen, als wir vom Tod Ihres Vaters erfuhren.«
Es waren nicht die Worte des Butlers, die Ranjit an seinen Verlust erinnerten. Der Gedanke an seinen verstorbenen Vater war stets gegenwärtig. Die Trauer war ein Bestandteil von ihm, ließ ihn Tag und Nacht nicht mehr los, einer Wunde gleichend, die nicht verheilen will.
Das Schlimmste am Tod war, dass er ein Band endgültig zerriss; eine Kommunikation war nicht mehr möglich. Ranjit hatte eine unendlich lange Liste von Dingen, die er seinem
Vater hätte sagen wollen - sagen müssen -, nur er hatte es nicht getan. Jetzt, da er seinen Vater unwiderruflich verloren hatte, stauten sich all die unausgesprochenen Bekundungen von Liebe und Respekt in seinem Herzen an.
Und die Nachrichten aus der gesamten Welt trugen auch nicht dazu bei, dass sich seine depressive Stimmung besserte. Zwischen Ecuador und Kolumbien waren Kämpfe ausgebrochen, um die Verteilung des Nilwassers wurde von neuem gestritten, Nordkorea hatte sich bei dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen darüber beschwert, dass China angeblich Regenwolken von koreanischen Reisfeldern ableitete und sie zur Bewässerung der eigenen Anpflanzungen benutzte.
Nichts hatte sich verändert. Nur dass die Weltbevölkerung um eine weitere Person geschrumpft war.
Aber da gab es doch etwas, das er tun konnte - längst hätte tun müssen -, und am sechsten Tag seines Aufenthaltes im Haus der Vorhulsts verlangte Ranjit endlich eine Kopie der hektisch heruntergetippten Abhandlung, die er noch vom Flugzeug aus als E-Mail verschickt hatte. Er prüfte sie so kritisch, skeptisch und gnadenlos wie ein Dozent, der die Klausurarbeit eines Studenten im ersten Studienjahr unter die Lupe nimmt. Wenn ihm schwerwiegende Fehler unterlaufen waren, die sein gesamtes Werk in Misskredit bringen konnten, dann würde er sie finden. Zu seinem Schrecken entdeckte er tatsächlich welche - zwei auf Anhieb, dann vier weitere; ein paar Passagen waren zwar nicht direkt falsch, aber erschienen ihm auch nicht eindeutig und klar genug.
Ranjit hatte Entschuldigungen. Diese Patzer waren darauf zurückzuführen, dass er seinen Beweis ausschließlich im Kopf hatte austüfteln müssen. Während der Zeit im Gefängnis, als er auf die Lösung des Rätsels kam, standen ihm weder Papier und Schreibstift oder gar ein Computer zur Verfügung. Sämtliche Schritte dieses mathematischen Kunststücks hatte er sich merken müssen, ohne eine Gelegenheit, sie schriftlich zu fixieren.
Zum Schluss, als der Beweis vollständig war, hatte er ihn auswendig gelernt und unentwegt in Gedanken wiederholt, getrieben von der Angst, er könne einen entscheidenden Schritt vergessen.
Nun stand er vor der Frage, wie er mit der Entdeckung seiner Fehler umgehen sollte.
Den ganzen Tag und den größten Teil der Nacht lang grübelte Ranjit darüber nach. Sollte er dem Magazin, an das er seine Lösung gemailt hatte, eine Liste seiner Korrekturen schicken? Das erschien ihm das Vernünftigste zu sein … doch dann regte sich sein Stolz, denn die »Fehler« waren im Grunde trivial, Schnitzer, die jeder gute Mathematiker auf Anhieb erkennen und fast genauso schnell ausbügeln konnte. Außerdem hatte er einen Horror davor, quasi als Bittsteller dazustehen.
Er schickte keine weitere Mitteilung mehr an Nature , obwohl er sich danach fast jede Nacht unruhig im Bett hin und her wälzte und überlegte, ob es nicht doch besser gewesen wäre, die Redaktion auf diese Fehler aufmerksam zu machen.
Zu gern hätte Ranjit gewusst, wie ein so renommiertes Magazin wie Nature mit Abhandlungen wie der seinen verfuhr. Er war sich ziemlich sicher, dass sie vor einer eventuellen Veröffentlichung Kopien an mindestens drei oder vier - womöglich sogar noch mehr - Experten auf diesem speziellen Gebiet
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