Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
Zeit kapierst du es immer noch nicht.«
»Was?«, fragte Evie unsicher.
Raffy schüttelte den Kopf. »Egal. Weißt du was? Es spielt keine Rolle mehr. Ich will jetzt schlafen.«
Er legte sich ins Bett, das Gesicht von Evie abgewandt, und zog die Decke über sich. Evie schlug die Decke zurück.
»Offenbar spielt es doch eine Rolle«, sagte sie und versuchte, ruhig zu bleiben. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, sagte sie sich immer wieder, aber es half nichts. »Also«, sagte sie kurz und bündig und hörte sich dabei an wie eine Lehrerin, obwohl Mitgefühl und Unterstützung eigentlich angebrachter gewesen wären. »Was genau hat Lucas denn Schlimmes getan? Abgesehen davon, dass er sich ein Leben lang verstellt hat, um dich zu beschützen? Abgesehen davon, dass er mehrmals alles riskiert hat, um dir das Leben zu retten? Was hat er so Schlimmes getan?« Raffy knurrte, und Evie rückte ein Stück von ihm weg. »Ich wünschte, du wärst nicht so verbohrt«, sagte sie. »Lucas ist kein schlechter Kerl. Ich verstehe nicht, warum du das nicht einsiehst.«
»Weil er schlecht ist«, sagte Raffy plötzlich, setzte sich auf und sah Evie finster an. »Du bist diejenige, die das nicht einsieht.«
»Dann sag mir, warum«, bat Evie verzweifelt. »Nenn mir einen triftigen Grund, warum er so schlecht ist.«
Raffy sah sie an und sagte dann kopfschüttelnd: »Es hat keinen Sinn. Es ist sowieso zu spät. Er hat getan, was er sich vorgenommen hat.«
»Was denn?«, sagte Evie, und ihre Stimme klang mindestens eine Oktave höher als sonst. »Was hat er getan? Was?«
Aber Raffy gab keine Antwort. Er legte sich wieder hin, drehte Evie den Rücken zu und zog sich das Kissen über den Kopf. Minuten später hörte Evie ihn tief atmen, ein Zeichen, dass er schlief.
Evie starrte ihn empört an. Wie konnte er nur so ruhig daliegen und schlafen? Sie zitterte am ganzen Leib vor Wut. Wie konnte Raffy nur so unvernünftig sein? So unbeweglich? So … stur?
Je länger sie ihn beobachtete, desto wütender wurde sie. Sie musste sich beruhigen und den Kopf freibekommen, damit sie endlich schlafen konnte. Sie wusste, dass er sie brauchte; er würde nicht eher ruhen, als bis sie verheiratet wären oder weit weg von allen anderen lebten. Aber im Moment bekam sie Schweißausbrüche bei dem Gedanken, mit ihm zusammen zu sein, nur mit ihm und für immer, und ihr stockte der Atem. Sie musste nach Luft schnappen, so als würde ihr allmählich die Sauerstoffzufuhr abgedreht.
Ihr war genauso zumute wie damals, in der Stadt, als sie Lucas heiraten sollte. Damals hatte sie gedacht, dass Raffy der einzige Mensch auf der Welt sei, den sie gernhatte.
Sie schloss die Augen. War das wirklich sie? War sie unfähig, glücklich zu sein oder Liebe zu geben? Sie atmete tief aus, machte die Augen wieder auf, erhob sich von ihrem Lager und tappte vorsichtig in die Küche. Vielleicht würde ein Glas Wasser helfen. Sie könnte sich ein paar Minuten ans Feuer setzen, sich aufwärmen und dabei vielleicht ihre düsteren Gedanken und ihre Wünsche vergessen. Sie war wütend auf Raffy, aber ihr war klar, dass es im Grunde nicht seine Schuld war. Sie war wütend auf sich selbst und auf die ganze Welt. Aber das würde nicht ewig dauern. Sie würde sich auch wieder beruhigen und dann wäre alles wieder gut.
Evie konnte Linus und Benjamin sehen, die am anderen Ende der Höhle schliefen. Sie goss sich ein Glas Wasser ein und ging hinüber zum Feuer, um sich zu wärmen und sich zu beruhigen. Doch als sie näher kam, sah sie, dass Lucas beim Feuer unter einem Stapel Decken schlief. Sie wusste nicht recht, warum sie es tat, aber sie ging zu ihm hinüber und hockte sich nahe bei seinem Schlafplatz auf den Boden. Sie betrachtete ihn eingehend, sein Gesicht, den Verband um seinen Kopf, seinen Arm, seine Hand. Er sah so ruhig aus und so friedlich. Sie stellte sich ihn im Lager der Spitzel vor, voller Furcht, aber dennoch ruhig und besonnen, wie er es immer war. Und während sie ihn ansah, wurde ihr bewusst, dass sie ihn immer nur sehr kontrolliert erlebt hatte. Er war für alle immer der Starke, der die Führung übernahm. Sie hatte ihn noch nie so verletzlich gesehen und sie konnte den Blick nicht von ihm wenden.
Ohne lange nachzudenken, streckte sie die Hand aus und legte sie ganz vorsichtig auf seine Hand. Gegen seine Hand wirkte ihre selbst nach einem Jahr in der Siedlung noch immer schmal und zerbrechlich. Sie ließ ihre Hand ein paar Sekunden lang auf seiner ruhen und
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