Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
…
Raffy stand auf, atmete langsam ein und aus und stützte sich mit der Hand an der Höhlenwand ab. Er musste sich beruhigen, er musste sich beherrschen. Sie würde ihm das nicht antun, egal, was dieser Thomas sagte. Er irrte sich. Er kannte Evie nicht. Obwohl er mit allem anderen recht gehabt hatte. Raffy schloss die Augen, machte sie aber gleich wieder auf, als Bilder von Evie und Lucas vor ihm auftauchten, Bilder, die ihn gequält hatten, seit Evie ihm gestanden hatte, dass sie Lucas in jener Nacht geküsst hatte, als sie aus der Stadt geflohen waren. Evie und Lucas. Lucas und Evie. Schon bei dem Gedanken brach ihm der kalte Schweiß aus. Lucas, der schon alles hatte, durfte nicht auch noch sie haben. Und solange Raffy lebte, würde er sie auch nicht bekommen.
Ruhelos ging er auf und ab. Sie würde wiederkommen. Thomas irrte sich. Er musste sich irren. Trotzdem konnte Raffy dessen Worte immer noch ganz deutlich hören, und die Lösung, die er ihm angeboten hatte …
Raffy atmete tief durch, zählte bis drei und dann bis zehn. Er musste sich endlich beruhigen. Lucas war nicht gekommen, um Evie zu holen; er war gekommen, um ihnen zu helfen, wie er es immer getan hatte. Obwohl Raffy das wusste, war sein Groll gegen Lucas immer noch weiter gewachsen. Lucas, der Held. Lucas, der Retter. Lucas, der ältere Bruder, den Raffy sein Leben lang so gehasst hatte, dass dieser Hass zu einem festen Bestandteil seines Ichs geworden war. Wenn er aufhörte, seinen Bruder zu verachten, würde er aufhören zu existieren. Und genau das verstand Evie nicht. Als Raffy die Wahrheit über Lucas erfahren hatte, hatte er ihn sogar noch mehr gehasst.
Denn Lucas’ Mut und Entschlossenheit ließen Raffys eigene Versäumnisse nur noch deutlicher zutage treten. Verglichen mit Lucas würde Raffy immer der Verlierer sein, eine Enttäuschung. Eine Tages würde Evie das erkennen und ihn wegen seines großen Bruders verlassen.
Raffy schüttelte sich. Er wurde langsam paranoid. Er ließ sich von diesem Thomas verunsichern, dabei war er sowieso schon ganz durcheinander. Evie war nicht bei Lucas. Sie liebte ihn, Raffy. Wenn das alles vorbei war, würden sie mit Benjamin in die Siedlung zurückkehren, ihm beim Wiederaufbau helfen, und sie würden heiraten. Alles würde sich wieder einrenken. Alles.
Aber sie war immer noch nicht zurück. Vielleicht sollte er einfach gehen und sie suchen. Nur für alle Fälle.
Er nahm seine Taschenlampe und ging durch den Tunnel zum Computerraum. Wenn Evie nicht in der Küche war oder im Wohnzimmer, dann würde er Lucas aufwecken und ihn fragen, ob er Evie gesehen hatte. Es war nicht so, dass er Lucas’ Hilfe bräuchte, aber so bekäme er die Gelegenheit, mit Lucas zu sprechen, sich wie ein Erwachsener zu verhalten, vernünftig zu sein. Denn er wusste, dass Evie das von ihm erwartete. Er würde es ihr zuliebe tun. Er würde Lucas danken, dass er gekommen war, und ihn fragen, wie es in der Stadt gewesen war.
Raffy ging weiter und spitzte die Ohren. Auf einmal blieb er stehen; er hatte etwas gehört. Evie. Ihre Stimme klang gedämpft, dann ein leiser Aufschrei. Das war eindeutig Evie. Wutentbrannt beschleunigte er den Schritt. Wenn irgendjemand ihr wehtat, würde er ihn umbringen; mehr noch, er würde ihn in Stücke reißen und ihm solche Schmerzen zufügen, wie er sie noch nie verspürt hatte. Raffy rannte in die Richtung, aus der ihre Stimme kam, und plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen, sein Mund klappte auf, und seine ganze Welt brach über ihm zusammen.
Sie war nicht in Schwierigkeiten.
Es war alles ganz anders.
42
E vie kroch zurück ins Bett, und als sie Raffy dort liegen sah, den Kopf auf dem Kissen, nichts ahnend, da fing sie an zu weinen. Und sie hasste sich nur noch mehr wegen der Tränen, denn sie hatte kein Recht zu weinen. Sie hatte kein Recht, etwas zu fühlen, denn sie hatte gerade den Jungen betrogen, den sie immer geliebt hatte und der so an ihr hing.
Sie legte sich hin, machte die Augen zu und versuchte zu schlafen. Und als der Schlaf sie schließlich übermannte, hatte sie Fieberträume. Sie wälzte sich hin und her, schwitzte, schrie und schreckte hoch. Als sie die Augen öffnete, drang durch einen Spalt schon das Tageslicht in die Höhle, und sie tastete mit der Hand hinüber zu Raffy.
Aber Raffy war weg.
Nicht weg, sagte sie sich, sondern nur nicht im Bett. Er konnte überall sein. Wahrscheinlich hing er irgendwo herum. Er wusste nichts. Er konnte nichts wissen. Vermutlich
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