Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
redete er mit Benjamin oder stritt sich mit Linus. Natürlich.
Evie stand schnell auf, zog sich an und eilte nach draußen. Sie versuchte, einen entspannten Eindruck zu machen und sich ihre Schuldgefühle nicht anmerken zu lassen. Aber die erste Person, die sie zu Gesicht bekam, war Lucas, und als sie seinen Blick sah, wusste sie, dass das, was zwischen ihnen vorgefallen war, kein Geheimnis bleiben konnte. Denn so, wie er sie ansah, gab sein Blick all seine Gedanken und Gefühle preis, und bei ihr war es vermutlich genauso.
Evie zwang sich zu einem Lächeln. »Hast du Raffy gesehen?«, fragte sie mit sanfter, aber zitternder Stimme. Sie bemühte sich, ganz normal zu klingen, aber sie hatte vergessen, wie sich normal anhörte, weil nichts normal war, weil nichts jemals wieder normal sein würde.
Lucas schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »Ist er nicht …« Evie wusste, wie der Satz weiterging: »… bei dir?« Worte, die Lucas nicht über die Lippen brachte. Ob er wohl die ganze Nacht gelitten hatte, weil er wusste, dass sie mit Raffy in einem Bett schlief? Ob er wohl eine ebenso unruhige Nacht hinter sich hatte wie sie?
Evie schüttelte den Kopf. »Hast du ihn auch nicht hier draußen gesehen?«
Wieder schüttelte Lucas den Kopf, und Evie begann durch die Höhle zu laufen und Raffys Namen zu rufen, aber sie bekam keine Antwort. Kurz darauf rief auch Lucas nach seinem Bruder und suchte jeden Winkel der Höhle nach ihm ab. Und während sie suchten, warfen sich Evie und Lucas immer wieder besorgte Blicke zu.
»Was ist los? Ist euch Raffy abhandengekommen?« Es war Linus, der gerade aus seinem Schlafsack kroch.
»Er … er hat geschlafen. Aber jetzt …«, sagte Evie besorgt. »Ich bin sicher, er ist hier irgendwo.« In Gedanken sah sie Raffy vor sich, wie er in der Nacht aufwachte, sie suchte und sie dann mit Lucas zusammen sah … Aber sie verdrängte diesen Gedanken sofort wieder. Nein. Nein …
Linus sah Lucas an. Evie hatte ihn noch nie so ernst erlebt. »Wir können ihn nicht finden«, sagte er.
Linus machte ein langes Gesicht und wurde aschfahl. »Ob die Spitzel ihn geschnappt haben? Nein, das ist unmöglich. Hier kommt keiner rein, wenn er nicht weiß, wie.« Er lief los, um Benjamin zu wecken. »Benjamin, bist du dir ganz sicher, dass dir niemand gefolgt ist?«
Benjamin schreckte aus dem Schlaf hoch und stand langsam auf. »Mir ist niemand gefolgt«, erwiderte er rasch. »Was ist denn los?«
»Raffy ist verschwunden«, sagte Linus grimmig. »Sie müssen hier hereingekommen sein. Aber wie? Und wie konnten sie Raffy mitnehmen, ohne dass sie Evie aufgeweckt haben? Das ergibt keinen Sinn.«
»Mir ist niemand gefolgt«, erklärte Benjamin kategorisch. »Da bin ich mir sicher. Könnten sie uns nicht auf andere Weise entdeckt haben?«
Linus ging unruhig auf und ab, die Arme vor der Brust verschränkt. »Nein. Ich meine, ja, offenbar schon. Aber nein, es ist unmöglich, dass jemand einfach hier hereinkommt und Raffy mitnimmt, ohne dass wir etwas davon mitbekommen …«
»So oder so, wir müssen ihn finden«, sagte Lucas. »Ich werde ihn finden. Ich werde mich auf den Weg machen. Sie können noch nicht weit sein.«
»Du gehst nirgendwohin«, erklärte Linus mit zu Schlitzen verengten Augen.
»Doch«, erwiderte Lucas mit entschlossenem Blick. »Wir können nicht warten, bis du dir einen Plan ausgedacht hast. Raffy ist in Gefahr und ich werde ihn suchen. Ich werde meinen Bruder finden.«
»Nein, Lucas«, sagte Evie ängstlich. »Vielleicht warten sie da draußen.« Es waren nicht die Spitzel gewesen. Raffy war nicht deswegen verschwunden. Das sagte ihr ihr Bauchgefühl. Er hatte etwas gemerkt. Irgendwie hatte er es herausgefunden. Aber sie durfte nichts sagen, weil sie wusste, dass niemand ihr die Schuld geben würde; sie würden Lucas dafür verantwortlich machen.
Lucas kam zu ihr herüber und streckte die Hand aus, um sie zu berühren, doch dann schien er sich anders zu besinnen. »Wenn die Spitzel Raffy geholt hätten, hätten sie uns alle mitgenommen«, meinte er mit leicht erstickter Stimme. »Sie waren es nicht, da bin ich mir sicher.«
Und als er ihr in die Augen sah, wusste sie, warum er seinen Bruder suchen wollte. Er glaubte auch nicht, dass sie Raffy geholt hatten. Lucas wusste genauso gut wie Evie, dass sie beide für sein Verschwinden verantwortlich waren und nicht die Spitzel; dass er von sich aus weggelaufen war. Und Evie wusste auch, dass Lucas sich nie damit abfinden würde,
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