Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
Verfügung, so wie ich allen anderen zur Verfügung stehe. Auch dir, wenn du Interesse hast. Ich könnte …«
Doch bevor er seinen Satz beenden konnte, hatte Raffy ihn am Genick gepackt und zu Boden gedrückt, wobei der Stuhl umfiel. Dann hockte er rittlings auf Neil, schlug auf ihn ein, schüttelte ihn und schrie ihn an, bis ein paar Männer ihn packten, von Neil wegzerrten und ihn festhielten.
Raffy hatte keine Ahnung, wie lange er festgehalten wurde und dabei Neil anbrüllte und wie wild um sich trat. Aber dann bemerkte er, dass es auf einmal ganz still wurde und dass die Atmosphäre sich veränderte und dass jemand auf ihn zukam.
»Lasst ihn los«, hörte er Benjamin mit ruhiger, aber fester Stimme sagen. »Raffy, komm bitte mit. Ich glaube, wir sollten uns ein bisschen unterhalten, meinst du nicht auch?«
19
Es war eine holperige Fahrt. Das lag nicht am Wagen, wie Linus immer wieder betonte, sondern an den Straßen. Oder besser gesagt, an den fehlenden Straßen. »Diese Lady ist kein Geländefahrzeug«, erklärte er Lucas und streichelte dabei anerkennend über das Lenkrad. »Steinige Wege bewältigt sie spielend, aber nicht solche Schlaglöcher wie hier. Sie ist für einen zivilisierteren Ort gedacht.«
Lucas sah Linus fragend an. »Dann war die alte Welt also zivilisiert?«
»Teilweise war sie sehr unzivilisiert«, meinte er achselzuckend. »Aber es gab auch Lichtblicke. Und es gab Straßen. Schöne lange, ebene Straßen.«
Während sie über Steine und Geröll dahinbrausten, sah Lucas nachdenklich aus dem Fenster. Die Landschaft war genauso trostlos, wie man es ihm erzählt hatte. Keine grünen Felder oder Wiesen, keinerlei Hinweise auf landwirtschaftliche Betriebe, auf Produktionsstätten oder Häuser. Es war, als ob die Stadt nichts zu tun hätte mit ihrer Umgebung, als existierte sie in ihrem eigenen Mikrokosmos. Die große hohe Mauer hielt nicht nur die Menschen fern, sondern auch den Rest der Welt.
Während Lucas die Welt an sich vorbeifliegen sah, erkannte er, wie wenig er über das Land außerhalb der Stadtmauer wusste und über die Menschen, die dort lebten. In den Jahren, die ihn geprägt hatten, hatte er alles geglaubt, was man ihm über die Bösen erzählt hatte, die außerhalb der Stadtmauer umherstreiften und die Tod und Zerstörung heraufbeschwören würden, wenn sie nur könnten. Er hatte geglaubt, dass Menschen zu extrem bösen Handlungen fähig waren und dass nur die Entfernung der Amygdala sie voreinander und vor sich selbst schützte.
Und dann hatte sein Vater ihm die Wahrheit gesagt, hatte ihm geduldig, aber in aller Hast erklärt, dass die Dinge nicht so waren, wie er gedacht hatte, dass der Bruder die Menschen belogen hatte, dass Lucas tapfer sein musste, dass er ihm ein Versprechen geben sollte und dass er stärker sein musste, als er sich je vorstellen könnte.
Lucas hatte getan, was von ihm verlangt wurde: Er hatte gelernt, das System zu bedienen, und dafür gesorgt, dass der Bruder ihm Beachtung schenkte und ihm vertraute. Er hatte seinen Vater als Verräter hingestellt, und er hatte zugelassen, dass sein Bruder ihn hasste. Und die ganze Zeit hatte er sich mit dem Gedanken getröstet, dass er wusste, dass er begriff, was wirklich vor sich ging.
Aber jetzt, auf dieser Fahrt durch eine Landschaft, die er noch nie zuvor gesehen hatte, wurde Lucas bewusst, dass er keine Ahnung hatte.
»Leben hier Menschen?«, fragte er schließlich.
Linus schüttelte den Kopf. »Hier nicht. Hier gibt es kein Wasser. Dafür hat die Stadt gesorgt. Aber es gibt bewohnbare Orte. Zum Beispiel die Siedlung, in der dein Bruder lebt.«
Lucas hielt den Atem an.
»Sie liegt im Norden«, fuhr Linus im Plauderton fort. »Etwa dreihundert Meilen entfernt.«
»Okay«, sagte Lucas und versuchte, ruhig zu klingen. »Verstehe.«
»Nettes Mädchen, diese Evie«, bemerkte Linus.
Lucas sah ihn scharf an, aber Linus blickte stur geradeaus auf die Straße, und sein Gesicht verriet nichts. »Willst du ein bisschen Musik hören?«, fragte Linus.
Lucas antwortete nicht. Linus griff in ein Seitenfach in der Autotür und zog eine CD heraus, die er in einen Schlitz neben dem Lenkrad schob. Kurze Zeit später ertönte laute, schrille Musik, die Lucas überrumpelte. Er warf sich in seinem Sitz zurück, sodass Linus laut auflachte.
»So macht das Reisen Spaß«, sagte Linus mit einem Grinsen im Gesicht. »Das weckt schöne Erinnerungen an die schlechte alte Zeit.«
Er klopfte mit den Fingern im Takt der Musik
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