Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
sein Handy wieder.
»Bist du inzwischen weit genug weg?«
»Noch nicht ganz«, sagte Devil.
»Dann renn los«, sagte Thomas. »Du wirst berühmt, Devil. In ein paar Minuten stelle ich deine Predigten ins Netz. Du wirst berühmt-berüchtigt und die Menschen werden dir folgen.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Devil, den Blick auf die Siedlung und das Land dahinter gerichtet.
»Die Genesis, das Erste Buch Mose«, sagte Thomas. »Du hast selbst daraus zitiert. ›Und der Herr sprach: Ich will die Menschen, die ich geschaffen habe, vertilgen von der Erde, vom Menschen an bis hin zum Vieh und bis zum Gewürm und bis zu den Vögeln unter dem Himmel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe. Aber Noah fand Gnade vor dem Herrn.‹ Das bist du, Devil. Du bist Noah. Und Gott selbst. Die Bösen werden bestraft, und den anderen wird Erlösung gewährt, wenn sie dir folgen, wenn sie tun, was du von ihnen verlangst.«
Devil schüttelte den Kopf. »Das wird nicht funktionieren, Thomas. Hier wird heute niemand sterben.«
»Was meinst du damit?« Thomas’ Stimme klang auf einmal kalt und zornig.
Aber Devil bemerkte es nicht, weil er gerade etwas entdeckt hatte. Ein Kind. Das kleine Mädchen, dem er das Fahrrad geklaut hatte. Mit ängstlichem Gesicht stand es auf dem Fußweg und blickte unsicher zu Boden. Es waren nur noch wenige Sekunden bis zur Explosion. Trotzdem rannte Devil zurück zur Siedlung und die Treppe hinauf. Er setzte das Mädchen auf seine Schultern und rannte los, obwohl er wusste, dass er es nicht mehr schaffen würde. Als er unten an der Treppe anlangte, gab es einen Knall, als ob eine Million Feuerwerkskörper auf einmal explodierten, nur noch lauter. »Es geht los«, hörte er Thomas durchs Handy. »Die Flut kommt.«
Devil roch den Rauch, hörte die Menschen rennen und schreien, aber er war wie gelähmt und konnte keinen Muskel bewegen wegen des Rauchs, der ihm in die Nase drang. Er hatte keinen solchen Rauch mehr gerochen seit … seit langer Zeit. Als er sich wieder bewegen konnte, ließ er sich zu Boden sinken, denn nun kamen die Erinnerungen wieder hoch. Er erinnerte sich an den Rauch, der ihm in den Mund und in die Nase drang. Er erinnerte sich, dass er Angst hatte, Angst wegen der Zigarette, die er geraucht hatte, der Zigarette, die den Rauch verursacht hatte, denn wenn seine Mum davon Wind bekäme, würde sie ihn windelweich prügeln. Er erinnerte sich, wie er aus der Wohnung gerannt war, um sich in Sicherheit zu bringen, weg von dem Rauch, weg von dem Feuer.
Und er erinnerte sich, dass er überhaupt nicht an Leona gedacht hatte.
Er spürte die Wärme, konnte den Hauch des Todes in der Luft riechen, der ihm in die Lungen drang. Menschen schrien, aber Devil hörte nicht hin. Denn er war mit seinen Gedanken ganz weit weg, irgendwo, wo alles voller Rauch war und heiß. Er erinnerte sich. Er war wieder in der Wohnung. Es war der Tag, an dem Leona starb.
Auf einmal bemerkte Devil, dass er etwas im Arm hielt. Es war das Mädchen. Sie lag in seinen Armen, das Handy gegen ihre Schulter gepresst. Leona?
Nein, es war nicht Leona. Sie konnte es ja nicht sein.
Leona war nicht aus dem Fenster gefallen. Wahrscheinlich hatte seine Mum es gar nicht offen gelassen.
Leona hatte es selbst geöffnet.
Leona war aus dem Fenster gesprungen.
Sie war gesprungen, weil er gezündelt und sie allein in der Wohnung zurückgelassen hatte.
Ein roter Blitz schoss durch seinen Kopf und langsam rappelte er sich wieder auf. Das Mädchen hustete, es lebte. Es hatte die Arme um Devils Hals geschlungen und sah zu ihm auf. Und er hielt es ganz fest und weinte.
»Sag mir, was los ist, Devil«, hörte er Thomas durch das Handy schreien. »Sag mir sofort …«
Devil warf einen Blick auf das Handy, das zu Boden gefallen war, und kickte es mit dem Fuß weg. Er hielt das Mädchen noch ein paar Sekunden ganz fest und spürte seine Wärme, seine Lebendigkeit. Als der Klang der Sirenen näher kam, setzte er das Mädchen ab, strich ihm über den Kopf, verabschiedete sich und rannte davon.
36
E vie marschierte schweigend durch die Dunkelheit, den Blick nach vorn gerichtet. Neben ihr ging Raffy, die Hände in den Taschen vergraben und mit finsterem Gesicht. Sie beobachtete ihn eine Weile und dachte daran, wie sein Zorn auf die Welt sie früher fasziniert hatte, wie seine Weigerung, sich anzupassen, ihn so unwiderstehlich gemacht hatte. Damals in der Stadt hatten sie und Raffy allein gegen den Rest der Welt gestanden. Ihre geheimen
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