Das letzte Zeichen - Die Verschwundenen: Band 2 (German Edition)
Treffen waren das Einzige gewesen, worauf sie sich gefreut hatte. Er war der Einzige, der die Dinge offenbar ebenso infrage stellte wie sie; der die Regeln der Stadt als derart einengend empfand, als hätten sie ihm Ketten angelegt.
Aber jetzt war alles ganz anders. Außer dass Raffy immer noch wütend, gereizt und eifersüchtig war, so als hätte sich nichts verändert, als wäre es nicht die Stadt gewesen, die ihn letztlich zu dem gemacht hatte, was er heute war.
Und während sein Zorn ihn früher aufregend und gefährlich erscheinen ließ, irritierte er Evie heute mehr, als sie mit Worten ausdrücken konnte.
Raffy ging neben ihr und passte seinen Schritt ihrem Tempo an; wenn sie den Schritt verlangsamte, ging auch er langsamer, und wenn sie den Schritt beschleunigte, ging auch er schneller. Während sie so nebeneinanderhergingen, wurde Evie bewusst, dass sie ihn abschütteln wollte; dass sie es schon eine ganze Weile versuchte und dass er es nicht zulassen würde. Je mehr sie versuchte, sich davonzumachen, desto mehr verfolgte er sie.
Die ganze Zeit hatte sie ihm seinen Willen gelassen, hatte vernünftig mit ihm geredet, war um ihn herumgeschlichen, hatte sich vereinnahmen lassen und hatte sich damit abgefunden, dass er grundlos wütend wurde. Weil sie wusste, dass er sie brauchte. Weil sie dachte, sie sei ihm etwas schuldig. Weil sie in der Siedlung glücklich sein wollte und weil sie keinen Ärger machen wollte.
Sie mussten die Siedlung verlassen, und etwas Schreckliches ging vor sich. Aber alles, was Raffy interessierte, war, dass er mit ihr Schritt hielt, dass er direkt neben ihr ging und dass sie in Sichtweite blieb, obwohl er zuvor, trotz Linus’ Warnung, dass sie in Lebensgefahr seien, bereit gewesen war, mit ihr in der Siedlung zu bleiben.
Weil er nicht an sie dachte, sondern nur an sich selbst.
Er dachte immer nur an sich selbst.
Evies Herz pochte vor Empörung und vor Enttäuschung, weil sie das nicht schon früher erkannt hatte. Sogar Raffys Wut auf Lucas diente der Selbsterhaltung und war selbst auferlegt. Es ging gar nicht um den Kuss. Raffy hatte Lucas schon lange vorher verachtet. Selbst als er erfuhr, was Lucas erduldet hatte, um ihn zu beschützen. Raffy sollte seinem Bruder dankbar sein. Er sollte ihn anhören, ihn alles erklären lassen und sich im Zweifelsfall auf seine Seite stellen.
Er sollte endlich erwachsen werden.
Evie steckte die linke Hand in ihre Tasche und griff nach dem kühlen metallenen Gegenstand, den sie dort versteckt hatte, den sie schon seit fast einem Jahr immer an einer anderen Stelle verbarg, stets darauf bedacht, dass er nicht gefunden wurde. Ihn hatte Evie als Erstes in ihre Reisetasche gesteckt; es war der einzige Gegenstand, ohne den Evie das Lager nicht verlassen konnte. Bevor sie aus dem Zimmer ging, das sie sich mit Raffy teilte, hatte sie ihn aus der Reisetasche genommen und in ihre Manteltasche gesteckt für den Fall, dass die Tasche verlorenging oder dass Raffy sie öffnete.
Es war Lucas’ Uhr, die Uhr, die sie sich so mühsam zurückgeholt hatte, nachdem Raffy sie weggegeben hatte. Sie hatte die Uhr so lange versteckt, ohne genau zu wissen, was sie eigentlich damit machen sollte.
Jetzt hielt sie die Uhr in der Hand und fühlte sich wieder stark, denn ihre alte Energie kehrte zurück. Sie wollte sich nicht mehr damit abfinden. Sie wollte nicht mehr zulassen, dass Raffy immer seinen Kopf durchsetzte.
Evies Blick ruhte auf Lucas, der ein paar Meter vor ihr ging. Er war ungefähr so groß wie Raffy, vielleicht ein oder zwei Zentimeter größer, aber selbst gegen Raffys neue muskulöse Statur war er immer noch breitschultriger. Er ging aufrecht und blickte stur geradeaus, stets konzentriert und wachsam. Evie konnte es sehen, obwohl sie sich nicht ganz sicher war, woran sie das erkannte. Sie wusste nur, dass er beobachtete und lauschte, wie er es früher in der Stadt getan hatte.
Evie fragte sich, was er wohl gemacht hatte, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Sie fragte sich, ob er jemanden gehabt hatte, mit dem er reden konnte, oder ob er sich in sein Schneckenhaus zurückgezogen hatte. In der Stadt war er immer so unergründlich gewesen, als hätte er kein Herz, keine Seele. Evie hatte Lucas gehasst; er war für sie der Inbegriff dessen gewesen, was sie an der Stadt verabscheute. Und dann … dann hatte sie den wahren Lucas kennengelernt. Als er sich ihr anvertraut und ihr die Wahrheit gesagt hatte, damit sie Raffy davon überzeugte, die
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