Das Leuchten der Insel
Chaos und der Unberechenbarkeit ihres Zuhauses. Später war es eine Erholung vom Leid. Sie tanzte unter den Sternen am Strand, erfand alberne Lieder, erzählte Witze – all die Dinge, die sie zu Hause nicht tun konnte, da dort die Gefahr bestand, dass ihr Vater wütend wurde oder dass ihre Mutter schwermütig war. Daran gewöhnt, zu Hause alle möglichen Dinge zu erledigen, weil ihr Vater oft betrunken war und ihre Mutter häufig mit Kopf- oder Rückenschmerzen im Bett lag, kümmerte sich Susannah ganz selbstverständlich um andere im Camp. Und sie spornte Matt bei sportlichen Wettkämpfen an, neckte ihn wegen seiner Vorliebe für Vanilleeis und half ihm, lustige Briefe voller Anekdoten nach zu Hause zu schreiben.
Für Matt, der sich seit seinem zehnten Lebensjahr mit Gelegenheitsjobs Geld verdienen und sich selbst versorgen musste, während seine Eltern viele Stunden für stets zu wenig Geld arbeiteten, waren Susannahs Interesse und ihre Anteilnahme höchst ungewöhnlich. Niemand hatte je die Zeit gehabt, sich seine Geschichten anzuhören, sich an seine Vorlieben und Abneigungen zu erinnern oder ihn anzufeuern.
Susannah sah in Matt jemanden, der ernsthaft und gerecht war, ein Verteidiger der Schwachen und Ausgestoßenen, ganz anders als ihr Vater. Er sah in ihr – wie ihr später bewusst wurde – all die Gefühle verkörpert, die er sich nicht einzugestehen oder zu äußern erlaubte. Sie wurden ungleiche Verbündete – und Freunde.
Im Sommer des Unfalls schrieb er ihr einen Brief. Er erwähnte den Unfall nicht – welcher Heranwachsende hätte schon gewusst, was in solch einem Fall zu sagen war –, aber er entwickelte ein kleines Quiz voll lustiger Fragen über Susannah, die ihr zumindest für ein paar Augenblicke das Gefühl vermittelten, dass sie ihren Kopf wieder oben tragen durfte und dass es in ihr noch immer etwas gab, das jemand mögen konnte.
Jahrelang glich ihre gegenseitige Anziehung dem stets wiederkehrenden Tanz von Glühwürmchen vor dem dunklen Nachthimmel – kurz, unmittelbar, schön. Als sie dann beide siebzehn waren und als Betreuer im Camp arbeiteten, entfesselten seine Küsse, seine tastenden Hände und ihr gemeinsames Verlangen alles, was sich in den Jahren zuvor aufgebaut hatte. Eines Abends fielen sie im Bootshaus purzelnd übereinander her, und ihr zunächst hektisches Gefummel entwickelte sich zu etwas Langsamem und Leidenschaftlichem und so Intensivem, dass sie, als die ersten Sonnenstrahlen auf das staubige Glas des Bootshausfensters trafen, noch immer ihre Körper erforschten, hungrig nach mehr.
»Ich werde jetzt keinen großen Aufstand machen wegen der Sache hier«, sagte Susannah, während sie sich hastig anzogen.
»Warum nicht?«, fragte Matt.
Von diesem Augenblick an hatte er nicht mehr aufgehört, sie zu lieben – obwohl sie Hunderte von Kilometern voneinander entfernt lebten, obwohl er andere Freundinnen hatte, obwohl sie andere Freunde hatte. In den folgenden Jahren wurde Matt zum Zentrum, auf das sie ihr Leben ausrichtete. Ihr Vater mochte sich von seiner zweiten (oder dritten) Frau scheiden lassen, ihre Mutter mochte sich in ihren Gram zurückziehen, Susannah selbst mochte das College wechseln, einen Beruf aufgeben oder sich selbst mit Schuldgefühlen lähmen – Matt blieb immer derselbe, ruhig und klar wie ein See am frühen Morgen, mit einer ähnlichen Kraft unter der stillen Oberfläche. Aber sobald Katie geboren war, brach etwas in Susannah auf, und Matts lockere Haltung schlug zuweilen in Gedankenlosigkeit und seine emotionale Zurückhaltung in Gleichgültigkeit um.
»Vermutlich bin ich in der Tat alleinerziehend«, erwiderte Susannah. »Obwohl ich das nicht so betrachte, weil ich jeden Tag mit Matt sprechen werde und er einmal im Monat hier draußen sein wird.« Sie räusperte sich: »Das war bei der Entscheidung herzukommen das Schwerste. Matt hat im vergangenen Jahr eine neue Arbeit angenommen. Er ist Geologe – ich glaube, Quinn hat Ihnen das bereits erzählt –, und er hat eine Stelle im Innenministerium angetreten. Er unterrichtet auch. Er konnte kein Sabbatical einlegen, nicht im Moment.«
»Ich verstehe«, sagte Jim.
»Was für ein Mann lässt seine Frau und seine Kinder wegziehen?«, hatte Matt an dem Tag gefragt, an dem sie sich entschlossen hatte zu gehen. Diese Frage hing zwischen ihnen und ebenso der unausgesprochene Folgesatz: Was für eine Frau nimmt ihre Kinder und lässt ihren Mann zurück?
»Es ist in Ordnung«, sagte Betty. »Hier leben
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