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Das Leuchten der Insel

Das Leuchten der Insel

Titel: Das Leuchten der Insel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathleen McCleary
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ein paar Tage zuvor gezeigt, wie einfach das war, indem er die Äste in etwa dreißig Sekunden hochgeklettert war. Natürlich war Hood fünfzehn Zentimeter größer und über dreißig Jahre jünger als sie. Der Stamm und die niedrigeren Äste waren mit Moos bedeckt und lieferten nur einen schlüpfrigen Halt. Außerdem fürchtete sie ein wenig, ein Eichhörnchen aufzuscheuchen, das etwas gegen ihre Gegenwart haben und möglicherweise seine kleinen Zähne in ihre Hand oder ihren Arm schlagen würde.
    Sie kletterte auf diesen speziellen Baum, einen großblättrigen Ahorn, weil er auf einer kleinen Anhöhe stand, und wenn man zwei oder zweieinhalb Meter hochstieg, konnte man tatsächlich einen anständigen Handyempfang haben. In den vergangenen drei Wochen hatte sie nur ein paar Mal mit Matt telefoniert. Er war nicht zu erreichen gewesen, weil er ständig in Meetings war oder wegen des Zeitunterschieds von drei Stunden gerade schlief oder aß. Er war sogar an mehreren Abenden fort gewesen, was merkwürdig war, da er es normalerweise hasste auszugehen. Wenn sie ihn dann doch erreichte, waren ihre Gespräche oft unterbrochen worden, weil es stürmte oder zu regnen begann oder es aus irgendeinem anderen Grund keinen Empfang mehr gab.
    Sie setzte sich in das V, wo sich der Stamm in zwei große Äste spaltete. Dort saß sie unbequem, aber sicher. Dann tippte sie Matts Nummer ein, aber auf ihrem Display erschien lediglich die Nachricht »nach einer Verbindung wird gesucht«.
    »Mist«, murmelte sie und hätte das Handy am liebsten in den Wald geschleudert. Sie spähte durch die verblassenden goldgelben Blätter nach unten und seufzte. Sie war nun seit drei Wochen hier und wurde das Gefühl nicht los, dass irgendein riesiges Etwas unter der Oberfläche ihres neuen Lebens lauerte und langsam heraufzog. Sie wusste nur nicht, was es war oder wann es zuschlagen würde. Außerdem trug der veränderte Lebensrhythmus zu ihrem Unbehagen bei. Die Kinder verschwanden stundenlang, ohne ihr Bescheid zu sagen, was sie zu Hause dazu veranlasst hätte, die Polizei anzurufen, aber was auf Sounder normal war. Es gab hier keine im Schulhof lauernden Pädophilen, wie Jim und Betty betont hatten, und keine sich in dunklen Ecken versteckenden Drogendealer.
    »Die meisten Leute lassen ihre Kinder ab dem vierten oder fünften Lebensjahr frei herumstreifen«, hatte Jim gesagt. »Es ist sicher. Sie gehen zur Schule, klettern auf Bäume, streifen durch die Wälder. Wenn sie sich verletzen, kommen sie damit klar. Es ist fantastisch. Sie lernen, unabhängig zu sein.«
    Susannah fragte sich, wie sie selbst Unabhängigkeit lernen könnte. In Tilton hatte sie es wie jede andere Mutter gehalten und jeden Augenblick den exakten Aufenthalt ihrer Kinder über Telefonate, Textnachrichten und ein ausgeklügeltes Elternnetzwerk verfolgt. Aber hier verließ Katie um acht Uhr morgens das Haus, um in die Schule zu gehen, und kam nicht vor sieben Uhr abends oder später zum Abendbrot zurück. Sie hatte kein Handy bei sich, weil der Empfang auf der Insel lückenhaft war. Sie verbrachte Stunden mit Hood und Baker im Wald und in der Scheune und am Strand. Sie sei dabei, ihr Umfeld zu erkunden, sagte sie, und neue Freundschaften zu schließen. Aus diesem Grund habe Susannah sie doch hergebracht, oder?
    Ja und nein. Einerseits liebte Susannah es, stärker dem natürlichen Lebensrhythmus entsprechend zu leben – morgens bei Sonnenaufgang aufzustehen, beim Holzhacken ins Schwitzen zu kommen und abends in einen tiefen Schlaf zu fallen, den sie der physischen Erschöpfung und der frischen Luft verdankte. Sie liebte es, morgens an der Küchenspüle zu stehen und durchs Fenster den Nebel zu betrachten, der über der Wiese schwebte. Sie sah Ringfasane, die im hohen Gras auf dem Feld scharrten, und hörte den süßen trällernden Gesang von Zaunkönigen, die in den Douglastannen und -fichten saßen. Sie bemerkte das Nahen des Winters an dem schwindenden Licht und den langen Schatten der Bäume, die Tag für Tag früher fielen. Die Nahrung, die sie zubereitete und aß, stammte zu einem Großteil aus demselben Boden, auf dem sie ging. Es war, wie sie gehofft hatte, ein völlig anderes Leben als das, was sie in Tilton geführt hatte.
    Aber zugleich irritierte es sie. Sie wusste besser als die meisten, wie launenhaft schnell die Natur und äußere Umstände umschlagen konnten. Die Nacht war endlos weit und dunkel, das Wasser unendlich und erbarmungslos. Es konnte ein plötzlicher

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