Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
in Pauls kleinem Zimmer
miteinander verbracht, aber Emma versuchte die Erinnerung daran zu verdrängen.
Sie war angespannt gewesen. Sie hatte es nicht genossen. Es , wie sie es nannte. Es war ihr peinlich gewesen. Auch jetzt ließ
sie dieses unangenehme Gefühl nicht los: Sie kannte diesen Mann doch kaum. Doch
mit Paul darüber sprechen wollte sie auch nicht. Immerhin hatten sie in der
Kabine getrennte Betten, was ihr ein wenig Abstand verschaffte. Aber zugleich
wusste sie, dass ihr Verhalten nicht normal war. Sie mochte ihn – und er
sie doch auch. Und jedes Ehepaar schlief gemeinsam in einem Bett. Vielleicht
brauchten sie beide einfach noch ein wenig Zeit.
Für Vera wäre das
anders, dachte sie. Vera hatte schon zwei Männerbekanntschaften gehabt.
Manchmal tuschelte Vera mit anderen Kolleginnen, und dann kicherten sie und
schlugen sich schnell die Hand vor den Mund, wurden rot. Sie, Emma, hatte es
über einen Kuss mit Ernst Zehner aus der Nachbarschaft nicht hinausgebracht.
Und das auch nur an jenem Abend, bevor er in den Krieg gezogen war. Es war ein
Abschiedskuss gewesen, er hätte ihn genauso gut einer anderen geben können. Er
war nicht mehr aus dem Krieg zurückgekehrt. Im letzten Jahr war dann ein junger,
kriegsverletzter Arzt ans Krankenhaus gekommen, der ihr häufiger Komplimente
gemacht hatte. Doch sie war kühl geblieben, weil sie seine traurigen und
bettelnden Augen nicht hatte ertragen können.
Tagsüber lag sie meist
in einem der Liegestühle neben Paul und befasste sich mit einem
Englischlehrbuch, das sie aus dem Bücherschrank ihres Vaters mitgenommen hatte.
Manchmal las sie auch eines von Pauls Büchern über Australien. Gleich in den
ersten Tagen war sie auf die Geschichte von Ludwig Leichhardt gestoßen, einem
Deutschen, der als Forscher den australischen Kontinent bereiste. Vor vierzig
Jahren war er mit seinen Männern mitten im australischen Busch verschollen. Sie
betrachtete die Zeichnungen: abgemagerte Männer, in einer endlos scheinenden
Wüste an einen Felsen gekauert, im Angesicht des Todes.
Vor der Abreise hatte
Paul ihr auf einer Landkarte die Lage der Missionsstation gezeigt, die er mit
schwarzer Tinte selbst eingezeichnet hatte – ein winziger Punkt inmitten
eines riesigen Kontinents. „Warum ausgerechnet dort?“, hatte sie von ihm wissen
wollen. „Weil unser Institut dort vor dreißig Jahren eine Missionsstation
gegründet hat. Unsere Vorgänger haben diesen Ort gewählt, weil er ihnen gut
erschien.“ Trotzdem verstand sie nicht, warum man einen so abgelegenen Ort
ausgesucht hatte. Lebten denn dort überhaupt Menschen? Die Zeichnungen, die sie
gerade betrachtete, weckten erneut ihr Unverständnis. „Unsere Missionsstation
Neumünster, wie weit liegt sie eigentlich von der nächsten Stadt entfernt?“,
fragte sie ihn, das Buch aufgeschlagen auf dem Schoß. „Ungefähr hundertfünfzig
Kilometer“, antwortete er, ohne von seiner Lektüre aufzusehen. Hundertfünfzig
Kilometer! Das wären ja fünf Dreißig-Kilometer-Fußmärsche! Sie hatte zwar jeden
Tag, bei jedem Wetter, fünf Kilometer zu Fuß ins Krankenhaus und wieder nach
Hause laufen müssen, oft mit schlechten Schuhen, aber dreißig Kilometer durch
unbewohntes Land erschienen selbst ihr sehr weit. „Werden wir ein Automobil
haben?“, fragte sie wenig hoffnungsvoll. Er schüttelte den Kopf. „Es gibt dort
keine Straße.“ In seinen Ton mischte sich Ungeduld. „Das habe ich dir doch
alles schon erklärt.“ Ja, er hatte es ihr erklärt, aber es war so viel Neues
gewesen, dass sie sich nicht mehr sicher war. „Entschuldige“, sagte sie. Sie konnte
glücklicherweise reiten, das war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen auf dem
Bauernhof ihrer Großeltern gewesen. Dennoch, die Vorstellung, in einem fremden
Land am anderen Ende der Welt ohne Straße so weit vom nächsten Ort entfernt zu
sein, bereitete ihr – angesichts der Zeichnungen in ihrem Buch -
Unbehagen. „Und wenn jemand krank wird?“ Er runzelte die Stirn und legte sein
Buch in den Schoß. „Emma, ich habe dich gefragt, ob du mit mir kommst, und du
hast Ja gesagt. Darauf habe ich mich verlassen. Ich kann niemanden an meiner
Seite gebrauchen, der voller Zweifel ist.“ „Natürlich nicht!“, stimmte sie
beschämt zu. Er hatte Recht. Sie hatte Ja gesagt. Warum hörte sie nicht einfach
auf zu fragen? Sie warf einen letzten Blick auf den sterbenden Forscher, dann
legte sie das Buch beiseite und schlug
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