Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
wusste sie
nun schon, seit er hier lag. Sie musste ihn fragend angesehen haben, denn er
winkte ab. „Sicher, natürlich wissen Sie das.“ Er räusperte sich. „Unser
Missionsinstitut hat es sich zur Aufgabe gemacht, Gottes Wort in der Welt zu
verbreiten. In vielen Ländern der Erde gibt es Menschen, die weder lesen noch
schreiben können und auch noch nie etwas von Jesus Christus erfahren haben.“
Emma hörte zu, aufmerksam und neugierig, worauf er wohl hinauswollte. „Ich habe
heute etwas sehr Bedeutendes erfahren.“ Sie konnte sich noch immer keinen Reim
auf seine Bemerkungen machen und wartete. „Ich übernehme eine Missionsstation.“
„Oh, das ist wirklich etwas Bedeutendes.“ Er wird nach Afrika geschickt werden,
dachte sie. Er nickte. „Unser Missionsinstitut hat mit der
evangelisch-lutherischen Synode von Süd-“ Er brach ab und sah sie sehr ernst
an. „Schwester Emma?“ Er schluckte. Seine blauen Augen leuchteten jetzt, er
richtete sich mühsam auf, holte Luft und sagte: „Würden Sie meine Frau werden
und mich nach Australien begleiten?“ Ihr verschlug es die Sprache. Damit hatte
sie nicht gerechnet. Australien? Das Land auf der anderen Seite der Weltkugel?
Sie war noch nie weiter als bis zum Hof ihrer Großeltern gereist, das waren
gerade mal achtzig Kilometer - Australien? Was war in diesem Moment in ihrem
Kopf vorgegangen? War es die Vorstellung, die nächsten Jahre ihres Lebens
abends zu ihrer verbitterten Mutter zurückkehren zu müssen? War es das
Schuldgefühl, zu Hause geblieben zu sein und den Krieg überlebt zu haben? War
es der Gedanke, dass das alles ihrem Vater, der so gern die Welt gesehen hätte,
gefallen hätte? Oder war es die Anziehung, die sie zu diesem fremden Mann
spürte?
Auch im Nachhinein
konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, nur noch an jenen Moment, als sie
den Mund öffnete und eine fremde Stimme sagte: „Ja.“ Er drückte ihre Hand, und
sie stand auf. Ohne sich noch einmal umzudrehen, ging sie hinaus, als sei
gerade das Selbstverständlichste geschehen. Im Flur lehnte sie sich an die
kalkweiße, kalte Wand und versuchte wieder zu atmen. Eine Woche später fand in
der Kirche des Missionsinstituts die Hochzeit statt. Emma stammte aus einer
lutherischen Familie, und das stellte die Missionsleitung, die auch über die
Eignung der Ehefrauen entscheiden musste, zufrieden. Nicht nur ihr Beruf
erschien dem Gremium besonders willkommen, auch ihre zusätzlichen Fähigkeiten
und Kenntnisse hatten sie beeindruckt. So verfügte sie dank des Bruders ihrer
Mutter, der lange Zeit in England verbracht und einige Jahre mit ihnen zusammen
gewohnt hatte, über recht gute Englischkenntnisse, und stets hatte sie die
Ferien auf dem Hof ihrer Großeltern väterlicherseits verbracht, wodurch sie mit
allen praktischen Tätigkeiten vertraut war, was ihr auf einer Missionsstation
zugute kommen würde.
Noch nie im Leben war
sie so überzeugt gewesen, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Sie würde etwas für die Menschheit tun, und Paul war ein Mann, der seine
Aufgabe sehr ernst nahm. Und sie, sie würde ihn begleiten und ihn unterstützen.
Was für eine großartige Aufgabe stand ihr bevor! Oh, Papa, dachte sie, ich
weiß, dass du stolz auf mich wärst! Auch Vera, ihre Kollegin, war ganz aufgeregt.
„Emma, wie wunderbar!“, rief sie aus und klatschte in ihre kräftigen Hände.
„Nach Australien! Das wird das Abenteuer deines Lebens! Und er ist so ein
stattlicher Mann! Wie ich dich beneide! Wenn ich doch auch nur so eine Chance
bekäme! Aber wer heiratet schon eine Krankenschwester?“ Emma hatte gelächelt.
Tatsächlich sahen es die Oberinnen nicht gern, wenn Krankenschwestern
heirateten. Sie sollten sich ganz der Pflege der Patienten widmen. Dass ihr
Aufbruch nicht bloß ein Abenteuer würde, sondern eine klare Entscheidung für
ein bescheidenes, gottesfürchtiges Leben war, hatte sie Vera zwar zu erklären
versucht, doch die hatte sie nur mit großen Augen angesehen. Der Kommentar
ihrer Mutter war gewesen: „Jeder geht. Ich bleibe.“ Dann hatte sie sich wieder ihren
Putzarbeiten gewidmet. Die Krankenhausleitung wünschte ihr alles Gute. „Wir
sind sehr stolz auf Sie“, hatte Senator Hinrichs gesagt und ihr persönlich die
Hand geschüttelt. Sie war errötet und hatte gedacht, dass doch gar niemand
wusste, am wenigsten sie selbst, was sie in diesem fernen, fremden Land
erwarten würde.
2
Sie blieb
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