Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
das Englischlehrbuch auf.
Zentralaustralien,
Mai 1922
Nur Alte und ganz kleine
Kinder sterben ohne Grund. Hinter jedem anderen Tod steht die Schuld. Das ging
Jalyuri durch den Kopf, als er mit den anderen zwölf Angehörigen seines Stammes
im Kreis um den Jungen stand, der sich seit Stunden zitternd in die Sandmulde
kauerte und weder essen noch trinken noch aufstehen wollte. Der Junge war
Jungala, sein Sohn. Seine schwarze Haut hatte Isi, Jalyuris erste Frau, mit dem
Pulver der Ghost Trees eingerieben, zum Schutz gegen die Sonne. Wie dünn er war
mit seinen sechs Jahren! Schon bald, wenn die beiden älteren Jungen so weit
wären, würde man sie gemeinsam in die uralten Geheimnisse einweihen, die nur
die erwachsenen Männer kannten. Von diesem Zeitpunkt an wäre er kein Kind mehr.
Er dürfte nicht mehr mit den Mädchen spielen, er dürfte eine lange Zeit nicht
mehr mit seinen Tanten sprechen, dürfte sie auch nicht ansehen, und wenn er
gegen eines der zahlreichen Gesetze verstieß, hatte er mit den Konsequenzen zu
rechnen. Dann würde er bestraft werden.
Jalyuri wollte nicht
daran denken, wenn er seinen kleinen Sohn jetzt sah. Er war so mager! Dabei
lagen die regenreichen Jahre noch nicht lange zurück. Spitz ragten die Gelenke
unter der dunklen Haut hervor, und sein Bauch war aufgebläht wie eine volle
Blase. Doch wenn er die drei Jungen betrachtete, die abseits auf einem
Baumstamm saßen und mit einem Stock Zeichen in den Sand malten, dann konnte er
keinen allzu großen Unterschied erkennen. Jalyuris Blick kehrte zur Runde der
Erwachsenen zurück. Keiner von ihnen war dick. Die wenigen Kängurus, die sie
erlegten, die Lizards und Mäuse, die sie aßen, machten nicht dick. Niemand
sprach.
Er hörte den Wind durch
die Dächer ihrer einfachen Hütten fahren, die sich vor den langen, leeren
Häusern aus Stein mit der hoch aufragenden Kirche in ihrer Mitte in
ehrfürchtigem Abstand duckten. Hin und wieder kam der Stamm auf seinen langen,
mühseligen Märschen durch die ausgetrockneten Weiten seines Landes hier vorbei,
obwohl niemand mehr da war, der Essensrationen verteilte oder sie die Sprache
der Weißen lehrte. Niemand, der von einem Gott sprach, der nicht ihrer war.
Einem Gott der Weißen. Die Kirche war zum Danger Platz geworden, einem gefährlichen
Ort, den man meiden musste. Der Regen war ausgeblieben, und auch die
Regenmacher hatten das nicht ändern können. Auf ihrem Marsch hatten sie noch
weniger Essbares gefunden als beim letzten Mal. Einige Wasserlöcher, die sie
schon seit Jahrtausenden auf ihren Wanderungen aufsuchten, waren ausgetrocknet.
Ein Kind war verdurstet. Er sah in den blauen Himmel, über den weiße, reine
Wolken zogen, und wusste: Das war erst der Anfang.
5
Auf See
Am dritten Abend ihrer
Reise machten sie die Bekanntschaft eines Ehepaars aus Düsseldorf. Ottmar und
Hilde Friedrich waren seit dreiundzwanzig Jahren verheiratet. Er, ein
rundlicher, lustiger und quirliger Mann in den Fünfzigern, schwitzte in seinem
dunklen Anzug so sehr, dass er sich regelmäßig mit dem Taschentuch über die vor
Feuchtigkeit glänzende Glatze und Stirn fahren musste. Hilde, seine Frau, eine
eher farblose Erscheinung, trotz des blitzenden Diadems auf dem Kopf, trug ein
blasses, veilchenfarbenes Kleid mit einem Chiffonüberwurf und sprach mit sehr
leiser Stimme. Stets vergewisserte sie sich mit einem Seitenblick auf ihren
Mann, ob dieser mit den wenigen Bemerkungen, die sie machte, einverstanden war.
Sie gingen höflich und rücksichtsvoll miteinander um und schienen sich an
Regeln zu halten, die sich in ihrem gemeinsamen Leben bewährt hatten.
Emma und Paul saßen mit
ihnen an einem etwas zu kleinen runden Tisch in einem voll besetzten
Speisesaal. Welch ein Prunk! Kristalllüster, mit samtigem Stoff bezogene
zierliche Stühle und glänzendes Geschirr und Besteck. Emma staunte. Sie hatte
solch üppigen Luxus noch nie gesehen. Normalerweise zahlte das Missionsinstitut
lediglich die Reise auf dem Zwischendeck, doch ein bedeutendes Mitglied der
Schifffahrtsgesellschaft unterstützte das Missionsinstitut, indem es den Missionaren
die Überfahrt in der zweiten Klasse spendierte. „Unsere Passagiere der ersten
und zweiten Klasse sind zumeist reiche und angesehene Leute, die durch die
Anwesenheit von Missionaren vielleicht auch zu Spenden für das Institut bereit
sind“, lautete die Begründung. Und die Anwesenheit von Gottes Dienern an Bord
könnte
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