Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
gehofft, wollte ihr eine Chance
geben, hatte mit sich gerungen, ob sie ihrer Mutter einfach sagen sollte: Ich
kann doch nichts dafür, dass es so gekommen ist! Schließlich hatte sie nichts
gesagt. Sie hatte sich eine weitere Enttäuschung ersparen wollen. Sie hätte es
nicht ertragen, wenn ihre Mutter auch darauf nur die Schultern gezuckt und mit
diesem leeren Blick aus dem Abteilfenster gesehen hätte.
Die Möwen standen hoch
oben in der Luft, bewegten nur hin und wieder ihre Flügel, ließen sich ein
Stück vom Wind treiben, senkten dann plötzlich den Kopf und stürzten aufs
Wasser hinunter. Niemals in ihrem Leben war sie mit dem Schiff gefahren. Die Britannia , das hatte Paul ihr erklärt,
war vor dem Krieg auf einer deutschen Werft gebaut und auf einen deutschen
Namen getauft worden. Infolge der Reparationsleistungen, die im Versailler
Vertrag vereinbart worden waren, hatte Deutschland sie an die Briten abführen
müssen, die sie in Britannia umbenannten und unter britischer Flagge fahren ließen.
„Verlassen Sie auch Ihre
Heimat?“ Emma drehte sich um. Die Frau war groß und hager und hatte etwas
Strenges, das durch ihre schwarze Kleidung und das nach hinten gekämmte und in
einem Knoten unter einem schwarzen Hut zusammengefasste Haar betont wurde. Man
hätte sie für eine Wahrsagerin halten können: Eine lange, knochige Nase, hohe
Wangenknochen und dunkel geschminkte, große Augen beherrschten ihr Gesicht und
verliehen ihr etwas Fremdes und Geheimnisvolles. Auf ihren Lippen lag
dunkelroter Lippenstift, und um den schon faltigen Hals trug sie eine
Perlenkette. Ein kurzes Lächeln glitt über das Gesicht der Frau, ein nicht
unangenehmes Lächeln, dachte Emma. Doch es war zu kurz, um Vertrauen zu
gewinnen oder um gleich sympathisch zu wirken. „Europa hat sich doch selbst
zerstört. Brechen wir auf zu neuen Ufern!“ Sie rollte das R, und ihr Akzent
erinnerte Emma an einen Patienten, der aus Polen war. Emma wollte nicht über
den Krieg sprechen. Überall redete man vom Krieg, von Schande und Demütigung.
Politik war nicht ihre Sache, und die Kriegsjahre waren schlimm genug, sodass
man sie nicht in den Friedensjahren wieder heraufbeschwören musste. „Reisen Sie
allein?“, fragte die Dame mit einer auffallend brüchigen Stimme. „Nein, ich bin
verheiratet“, antwortete Emma und sah stolz auf ihren schmalen goldenen Ring,
der in der Mittagssonne aufblitzte. „Ich war auch verheiratet.“ Die Dame zog
die Enden ihrer schwarzen, gehäkelten Stola enger um ihre knochigen Schultern
und lachte. „Drei Mal sogar. Den Letzten haben sie mir weggeschossen.“ Sie sah
Emma mit ihren dunkel geränderten Augen an. „Und wissen Sie, was? Jetzt will
ich keinen mehr.“ Emma wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte, und
schwieg. „Er war Pianist.“ Sie seufzte und schüttelte den Kopf. „Wie kann man
nur annehmen, dass ein Pianist einen guten Soldaten abgeben könnte?“ Die Frau
lachte bitter und tupfte sich mit der Spitze ihrer Stola über die Augen, als
habe sie sich über ihren Witz so sehr amüsiert, dass sie weinen musste. Sie
ließ die Stola los, wurde ernst und winkte ab. „Aber ich langweile Sie.
Verzeihen Sie. Es gibt nichts Langweiligeres als die traurigen Geschichten
fremder Menschen.“ Emma wollte zu einer Erwiderung ansetzen, wollte ihr
versichern, dass sie sich nicht gelangweilt fühlte, doch die Frau schien keine
Antwort zu erwarten und fragte in allzu unbekümmertem Tonfall, als dass er echt
sein konnte: „Und wohin fahren Sie?“ Noch immer fühlten sich die Namen fremd
auf ihrer Zunge an, klangen zu unwahr für ihre Ohren: „Nach Adelaide,
Südaustralien.“ Über das Gesicht der Frau huschte ganz kurz der Ausdruck eines
Triumphs. „Ich dachte mir gleich, dass Sie nicht zu denen gehören, die nach
Indien oder Afrika gehen! Suchen Sie sich eine neue Heimat in Australien?“
Dabei zupfte sie beiläufig an ihrer Stola. Ihre goldenen Armreifen klimperten.
„Mein Mann ist Missionar, und ich ...“ Weiter kam sie nicht. Ein verschlucktes
Auflachen. „Missionar?“ Emma verzog keine Miene. Nicht sie, diese Dame da hatte
sich gerade eine Blöße gegeben. „Missionar?“, wiederholte die Frau, ernst
geworden. „Glauben Sie denn tatsächlich noch an das Gute im Menschen, nach ...
nach allem, was passiert ist? Die Schlachtfelder voller verstümmelter Leichen,
das Giftgas ...?“ Natürlich hatte Emma sich diese Frage auch gestellt.
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