Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
nickte
stumm. „Ach, Emma ...“, flüsterte er, „meine arme kleine Emma ...“ Da konnte
sie sich nicht mehr zusammenreißen und schluchzte. Wie lange war das her, das
ihr Vater das zu ihr gesagt hatte ... meine kleine Emma ... und er sie
in seine Arme genommen und so lange gehalten hatte, bis sie aufgehört hatte zu
weinen. „Vielleicht“, hörte sie Pauls Stimme wieder, „verlangen wir einfach zu
viel von uns.“ Ja, vielleicht – dennoch ... Sie rang die Tränen nieder
und sagte: „Ich habe ihnen noch nicht einmal beistehen können, als sie
starben.“ „Ja ...“ Diesmal war er es,
der nicht weitersprach.
Das gleichmäßige Brummen
der Turbinen, das Zischen des Wassers am Bug, die gedämpfte Musik aus dem
großen Saal – das tröstete sie, machte ihr klar, dass sie sich auf dem
Weg in ein anderes Leben befand, in ein Leben, in dem sie etwas wieder gutmachen
konnte. Schweigend standen sie noch eine Weile an der Reling, bis er sie auf
einmal fragte, ob sie hinunter in die Kabine gehen sollten. Sie schlenderten
langsam über das Deck zur Treppe.
Er schaltete das Licht
nicht an. Nur durch das Rund des Bullauges fiel blasses Mondlicht. Ohne Eile
zog er sie aus, entkleidete sich. Als sie seine warme Haut auf ihrer spürte,
rann eine Träne über ihre Wange. „Weine nicht ...“, flüsterte er und küsste
ihre Träne. Noch nie hatte er sie so zärtlich und verständnisvoll geliebt wie
in dieser Nacht. Noch nie hatte sie sich so tief mit ihm verbunden und von ihm
verstanden gefühlt. Als sie in seinen Armen einschlief, wünschte sie, sie
könnte ihr ganzes Leben mit ihm auf diesem Schiff verbringen.
10
Am nächsten Morgen um
halb neun herrschten schon dreißig Grad. Der Fahrtwind war kaum zu spüren. Die
meisten Passagiere trieb es, trotz der kurzen Nacht aus ihren zumeist engen und
heißen Kabinen. Paul war bei seinem morgendlichen Spaziergang an Deck, den er
seit dem Suezkanal zu einem wichtigen Punkt seines Tagesprogramms gemacht
hatte, und Emma spielte mit einigen Damen auf dem hinteren Deck Karten, als ein
junger Mann mit Schirmmütze aufgeregt herbeigelaufen kam und mit sich
überschlagender Stimme rief: „Der Deutsche Außenminister ist ermordet worden!
Walther Rathenau von Rechtsradikalen ermordet!“ Diejenigen, die verstanden, was
der Mann sagte, hielten inne. Die anderen, Engländer zumeist, merkten erst an
der Reaktion ihrer Nachbarn, dass die Nachricht ernst sein musste. „Ach“, stöhnte
die Dame neben Emma, „wir können froh sein, dass wir so weit weg sind!“ „Was
reden Sie da?“, erwiderte eine andere, „und was ist, wenn Sie wieder zu Hause
sind?“ Emma legte die Karten weg und entschuldigte sich. Sie machte sich auf
die Suche nach Paul. Hatte dieses Attentat Auswirkungen auf ihre Arbeit in
Australien? Sie erinnerte sich an das, was Ottmar Friedrich über die Lager
gesagt hatte, in die man die Deutschen im Krieg gesteckt hatte. Sie eilte über
das Deck und stieß beinahe mit einer Gruppe Menschen zusammen, die sich
aufgeregt zusammendrängten. „Hilfe! Ein Herzanfall!“, rief jemand. „Einen
Arzt!“ Emma drängte sich an zwei Männern vorbei und erschrak. Am Boden lag
Ottmar Friedrich, rang nach Atem, die Hand auf die linke Brust gepresst. „Frau
Pastor!“, keuchte er. Sein Gesicht war blass und schweißig. „Sagen Sie Hilde,
dass ...“ „Ganz ruhig, Herr Friedrich!“ Sie kniete sich neben ihn und öffnete
mit raschen Griffen sein Hemd. Ihre Finger zitterten nicht im Mindesten, sie
war jetzt wieder Krankenschwester. „Heben Sie seinen Oberkörper an, los, und
die Arme!“, befahl sie einem Mann, der in der Gruppe stand. „Los!“ Ohne
Widerspruch tat er, was sie ihm sagte. Sie tastete den Puls. Er war
unregelmäßig und flimmerte. „Ich hab’ sie mehr als alles andere ...“, flüsterte
er keuchend. „Herr Friedrich, atmen sie ganz tief ein und aus.“ „... geliebt,
und sie soll nicht mehr heimfahren.“ „Sprechen Sie jetzt nicht.“ Aus seinem
Gesicht war jegliche Farbe gewichen, nur seine Lippen waren bläulich und
zitterten. Bitte, lieber Gott, betete sie, lass ihn nicht sterben! „Ganz ruhig,
atmen Sie ganz ruhig ein und aus.“ „Und Sie, Frau Schott“, seine Stimme war nun
ganz leise geworden, seine Augen suchten sie, „Sie müssen auf ihre eigene Kraft
...“ Mitten im Satz verstummte er, seine Augen wurden starr, sein Körper
erschlaffte. Sie fühlte keinen Puls mehr. Sie riss seine Arme
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