Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
hoch, doch Ottmar
Friedrich rührte sich nicht mehr. „Lassen Sie mich durch!“, sagte jemand hinter
ihr. „Ich bin Arzt.“ Er kniete sich neben Emma, tastete an Friedrichs Hals und
ließ dann die Hand sinken. Ottmar Friedrich lag auf dem Rücken und blickte mit
offenem Mund und großen Augen in den Himmel, als hätte ihn dort etwas
erschreckt. Mit einer einfachen Handbewegung fuhr der Arzt über Ottmar
Friedrichs Lider und stand wieder auf. Ein Steward in weißer Uniform, der
gerade hinzugekommen war, erfasste in Sekundenschnelle die Situation und
schickte einen Kollegen zum Kapitän. Auf einmal zitternd drängte sich Emma an
den noch immer gaffenden und tuschelnden Menschen vorbei. Plötzlich waren Pauls
Arme da, und sie ließ sich von ihnen auffangen.
Hilde Friedrich nahm die
Nachricht vom Tod ihres Mannes ohne eine besondere Gefühlsregung auf. Sie
nickte nur und starrte dann auf ihre Hand, an die sie immer wieder den Siegelring
ihres Mannes zu stecken versuchte, obwohl er für ihre zarten Finger viel zu
groß war. Inzwischen war Paul gegangen, Emma hatte ihn darum gebeten, weil sie
spürte, dass sich Hilde Friedrich von ihm eingeschüchtert fühlte.
Die Kabine der Friedrichs
lag im oberen Deck und war sicher doppelt so groß wie ihre. Durch das Fenster
konnte man weit über das Meer sehen, und die Maschinengeräusche und das
Schlagen des Wassers drangen nur gedämpft nach hier oben. Trotz des geöffneten
Fensters war es heiß. Auf dem Waschtisch aus rosafarbenem Marmor glänzten
polierte Goldarmaturen, und über die Betten hatten Zimmermädchen mit straffem
Griff blasse, altrosafarbene Decken gespannt. Das hier war eine Kabine der
ersten Klasse. Dabei hatte Ottmar Friedrich doch behauptet, „sich unters Volk
zu mischen“, ging es Emma durch den Kopf. Aber der Mann war tot, warum sollte
sie ihm eine solch winzige, unbedeutende Schwindelei jetzt verübeln? Emma hatte
sich auf einen zierlichen Stuhl gesetzt, der zu einem ebenso zierlichen Sekretär
aus Kirschholz passte.
Hilde Friedrich stand
noch immer am offenen Fenster, ihr Haar war noch immer so sorgfältig onduliert
wie vor Tagen, und drehte den schweren goldenen Ring ihres Mannes in der Hand,
ratlos oder vielleicht sogar überrascht über das Gewicht, das ihr Mann so viele
Jahre an seinem kleinen Finger durchs Leben getragen hatte. „Wir werden nicht
wieder zurückfahren, hat er gesagt.“ Hilde Friedrich starrte zum Fenster
hinaus, vor dem die Linie des Horizonts unverändert vorbeizog. „Und was werden
Sie jetzt tun?“, fragte Emma. „Ich habe niemanden mehr. Er war der Einzige.“
Emma fragte noch, bevor sie ging, ob sie etwas für sie tun könne, doch Hilde
Friedrich verneinte. „Ich komme später wieder vorbei“, versprach Emma. „Und
wenn Ihnen danach ist, dann klopfen Sie bei uns.“ Hilde Friedrichs nickte und
verabschiedete sie mit diesem Lächeln, das sie immer gelächelt hatte. Einer
Mischung aus Tapferkeit und Leidensfähigkeit.
Paul sah von seinen
Schreibarbeiten auf, als Emma die Kabine betrat. Sein Haar war zerwühlt wie
immer, wenn er angestrengt und konzentriert arbeitete. Emma seufzte. „Sie ist
ohne ihn ganz allein.“ „Vielleicht sollte ich zu ihr gehen?“, meinte er. „Ich
glaube, sie will allein sein.“ Nachdenklich nickte er wieder. „Christus tröstet
uns“, sagte er kaum hörbar und blickte abwesend auf den Boden. Emma betrachtete
ihn. Ein großer, fast massiger Mann, unter dem der Stuhl, auf dem er saß,
zerbrechlich wirkte. Woran denkst du jetzt? Welchen Schmerz verbirgst du vor
mir? Doch sie fragte nicht, wartete auf einen Blick, eine Geste, aber er wandte
sich nur schweigend wieder seiner Arbeit zu. Daraufhin nahm sie Papier und
Stift und ging hinauf an Deck, wo sie sich einen ruhigen Platz suchte, um einen
langen Brief an ihre Mutter zu schreiben.
Etwa eine Stunden
später, es war noch heißer und schwüler geworden, hatte Emma ihre Korrespondenz
erledigt und beschloss, auf dem Weg in ihre Kabine nach Hilde Friedrich zu
sehen. Auf ihr Klopfen hin öffnete niemand. Vielleicht ist Hilde Friedrich ja
beim Essen, dachte sie. Im Speisesaal ging sie durch die Gänge zwischen den
Tischen, konnte die Witwe aber nirgendwo entdecken. „Kann ich Ihnen helfen,
gnädige Frau?“, fragte ein Kellner mit einem Tablett voll leerer Teller.
„Suchen Sie einen freien Platz?“ „Nein, danke.“ Sie suchte weiter, fand Frau
Friedrich aber nicht. Vielleicht
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