Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
schlief sie ja, hatte sich nach all der
Aufregung hingelegt.
Von einer plötzlichen
Unruhe getrieben, eilte sie wieder hinaus, hastete zur Treppe und von dort zur
Kabine von Hilde Friedrich. Als sie nur noch wenige Meter entfernt war, öffnete
sich die Tür und Paul kam heraus. Sie brauchte nicht zu fragen. Der Ernst auf
seinem Gesicht verriet ihr, dass etwas geschehen war ... Paul nahm sie in die
Arme und hielt sie fest. Hinter ihm schoben sich zwei Sanitäter mit einer
Bahre, auf der ein weißes Leintuch die Formen eines Körpers verbarg, aus der
Kabine. Unfähig, etwas zu sagen, starrte Emma der Bahre nach, bis die Sanitäter
am Ende des Flurs verschwunden waren. „Sie hat Gift genommen. Es muss kein
angenehmer Tod gewesen sein.“ Emma schluckte schwer. „Woher hatte sie es?“ Paul
hob fragend die Augenbrauen. „Vielleicht hatten sie mit so etwas gerechnet.“ Er
seufzte. „Wieso hast du gewusst, dass ...?“ Sie schreckte davor zurück, die
Worte auszusprechen. Er zuckte müde die Schultern. „Gott spricht leise zu uns.
Er gibt uns Zeichen, und wenn wir aufmerksam sind, erkennen wir sie –
aber ich kam zu spät“, fügte er leise und bitter hinzu. „Ach, Paul.“ Sie
streichelte seine sommersprossige Hand, die in ihrer lag. „Es war ihre Entscheidung. Du musst dir nichts
vorwerfen.“ Er sah auf sie herunter, mit seinen blauen Augen, in denen
plötzlich Tränen standen. Dass ihm der Tod der schweigsamen Ehefrau des
dicklichen Geschäftsmanns so nahe ging, überraschte sie. Ich weiß noch so wenig
von ihm, dachte sie.
Sie setzten sich auf
eine Bank im Windschatten eines Deckaufbaus. Die Turbinen stampften in
beruhigender Gleichmäßigkeit, geradlinig pflügte der Bug durch die glatte See,
Vögel stießen hinunter ins Wasser, und irgendwann glaubte Emma weit in der
Ferne Delfine aus den Wellen springen zu sehen. Wie nah liegen doch Leben und
Tod beieinander, ging es ihr durch den Kopf, und sie lehnte sich an Pauls
Schulter. „Paul, glaubst du, dass wir ein langes gemeinsames Leben haben
werden?“, fragte sie auf einmal. „Hilde und Ottmar Friedrich hatten ein langes
gemeinsames Leben. Am Ende konnte Hilde sich kein Leben mehr ohne ihren Mann
vorstellen.“ „Nur Gott ist der Herr über Leben und Tod. Du darfst nicht töten,
heißt es. Sie hat sich über Gott hinweggesetzt.“ „Aber wenn die Liebe zu einem
Menschen stärker ist als die zu Gott?“, fragte sie weiter. „Emma, was stellst
du nur für Fragen?“ Mit einem zärtlichen Lächeln sah er sie an und schüttelte
den Kopf. Als er nicht weitersprach, fragte sie: „Paul, liebst du mich
eigentlich?“ Sie glaubte an seiner Schulter einen leisen Widerstand zu spüren.
Vielleicht aber bildete sie sich das auch nur ein. „Aber sicher liebe ich dich,
Emma“, sagte er ruhig. Dann schweifte sein Blick übers Meer. Sie wartete auf
eine weitere Beteuerung, eine Geste, irgendetwas, das ihr jeglichen Zweifel
nehmen würde, doch er sagte nichts mehr.
11
Am Vormittag des
folgenden Tages fand die Trauerfeier für die Verstorbenen statt. Es war
windstill, heiß und schwül, und der Himmel war nicht blau, sondern weiß. Wären
sie auf einem Segelschiff gewesen, hätten sie mitten im Indischen Ozean
festgesessen. Mehrere hundert Passagiere hatten sich eingefunden, die
Kopfbedeckungen trotz Hitze und Sonne in der Hand, und lauschten den Worten des
Schiffsgeistlichen. Neben ihm waren die beiden Särge aufgebahrt, auf denen je
ein Blumenbukett aus weißen Orchideen lag, die man in Ceylon eigentlich für die
Tischdekoration und die Ausstattung der Erste-Klasse-Kabinen an Bord gebracht hatte.
Nach der Trauerfeier, es
war kurz nach zwölf - Paul blieb zum Lesen an Deck -, ging Emma in die Kabine
hinunter, um sich ein anderes Kleid anzuziehen, da sie das, das sie trug, noch
zum Waschen geben wollte. Sie hatte schon das neue hellblaue, luftige und
natürlich selbst geschneiderte, angezogen und schloss gerade den obersten
Knopf, als ihr Blick auf einen aus Pauls Koffer heraushängenden Hemdzipfel
fiel. Sie bückte sich, um den Koffer unter dem Bett hervorzuziehen, damit sie
das Hemd ordentlich falten und zurücklegen konnte. Doch anstatt das Hemd
zusammenzulegen und den Koffer wieder zu schließen, befühlten ihre Finger die
anderen Hemden – warum sie das tat, wusste sie nicht -, glitten zwischen
den Stoff, zupften hier und da, wurden immer selbstständiger, fanden den Deckel
eines Buchs, tauchten tiefer
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