Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
Passagiere die Britannia verließen und
einige neue an Bord gingen. Emma verlor allmählich die Geduld. Sie wollte
endlich ankommen. Doch die Britannia kümmerte das wenig. Mit geradezu
stoischer Ruhe, so kam es Emma vor, bahnte sich das Schiff seinen Weg durch den
Indischen Ozean. Seemeile für Seemeile. Tag für Tag und Nacht für Nacht.
Am Abend des 24. Juni
überquerten sie den Äquator. Es gab eine ausgelassene Feier, bei der Unmengen
von Alkohol getrunken und allerlei derbe Späße gemacht wurden. Ottmar Friedrich
wirkte zwar noch etwas kränklich, doch diesen Abend wollte er sich von seiner
„Befindlichkeit“, wie er sich ausdrückte, nicht verderben lassen. Er bestellte
Wein für sich und seine Frau, und nach dem Essen rauchte er seine Zigarre und
trank zwei Gläser Cognac. „Man darf sich einfach nicht hängen lassen!“, spaßte
er, und Hilde Friedrich schüttelte – mit echter oder gespielter
Entrüstung, das konnte Emma nicht eindeutig entscheiden - den Kopf. Sie war
wohl beim Friseur gewesen, fiel Emma gleich zu Beginn des Abends auf. Ihr
graues Haar hatte einen Stich ins Mauvefarbene angenommen, und es war frisch
onduliert.
Seit jenem Abend hatte
Emma keinen Alkohol mehr angerührt. Die Begegnung mit Max Jacobs, so sagte sie
sich, wäre ohne den Genuss des Weins - mein Gott, aber es war doch wirklich nur
ein kleines, kleines Glas – anders verlaufen. Sie hätte den Versuchungen
widerstanden, da war sie sicher. Sie registrierte einen Blick von Paul, und ihr
war, als wüsste er genau, was an jenem Abend geschehen war. Doch dann wischte
sie diesen Gedanken weg. Paul hatte in der Kabine im Bett gelegen. Er wusste
nichts von Max Jacobs. Verblüfft und ungläubig sah sie Paul an, als er
tatsächlich eine Flasche Wein bestellte. Ohne Erklärung goss er ihr und sich
ein Glas ein. „Auf Neumünster!“, sagte er mit feierlichem Ernst und prostete
ihr zu. Nach zwei rasch geleerten Gläsern stand er auf, verbeugte sich vor ihr
und forderte sie zum Tanzen auf. Sie konnte es kaum glauben. Aber warum sollte
sie jetzt darüber nachdenken? Sie tanzten. Sie schmiegte sich an seinen Körper,
fühlte seine Wärme und überließ sich ganz einfach der Musik – und ihm.
Wie leicht es war, zu schweben, dachte sie irgendwann. Er schenkte ihr ein
Lächeln, sein rotes Haar leuchtete im funkelnden Schein der Kronleuchter - und
sie war glücklich. Alles ist richtig, dachte sie. Als es ihnen zu laut wurde,
suchten sie sich einen ruhigen Platz an Deck und betrachteten die glitzernden
Sterne. „Weißt du“, sagte Paul auf einmal und legte den Arm um ihre Schultern,
„als kleiner Junge habe ich immer gedacht, ab dem Äquator würde das Meer von
der Erdkugel tropfen.“ Er lachte und schüttelte den Kopf. „Gib es zu“, neckte
sie ihn, „du hast es bis heute Abend geglaubt!“ Er schmunzelte und strich ihr
zärtlich übers Haar. „Ach, Emma ...“ Er seufzte und blickte über das Meer, das
silbern aufblitzte. Sie wartete, dass er weitersprach, doch er atmete nur tief
und hielt sie fest. Sie spürte seinen warmen, pulsierenden Körper an ihrer
Seite, und einen Moment lang dachte sie an die Begegnung mit Max Jacobs. Wie
hatte sie sich bloß zu diesem fremden Mann hingezogen fühlen können? Sie nahm
Pauls Hand und verschränkte ihre Finger mit seinen, der Beginn eines Spiels,
das sie früher mit ihrem Lieblingsbruder Karl gespielt hatte. Man musste einen
bestimmten Finger bewegen, und seltsamerweise fiel es schwer, die eigenen
Finger von denen des anderen zu unterscheiden. Paul lächelte kurz und sah dann
wieder aufs Meer.
„Wie war das für dich“, fing er auf einmal an, „als deine
Brüder im Krieg gefallen sind?“ Hatte er ihre Gedanken gelesen? Sie rieb ihre
Wange am Stoff seiner Jacke, und es erinnerte sie an das Kratzen des
Uniformstoffs auf ihrer Haut, als sie sich von ihrem Bruder Karl verabschiedet
hatte – damals, als er so sicher war, dass er zurückkehren würde ... Sie
schluckte und krallte ihre Finger noch fester in die von Paul. „Ich“, begann
sie, „hab’ mich schuldig gefühlt, weil ich ...“ Sie stockte, wehrte sich gegen
die Flut der Erinnerungen an glückliche Momente mit ihren Geschwistern, an ihr
Lachen, ihre Raufereien und Neckereien ... Paul drückte sie noch ein wenig
enger an sich. „... weil ich ...“, sie konnte wieder nicht weitersprechen. „
... weil du sie nicht retten konntest?“ Er hatte sie verstanden. Sie
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