Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
ein zwischen weitere Stoffe, da war eine Hose,
hier eine Weste, und da Papier, ein Buch, noch ein Buch und da, ganz unten
schon, das Leder einer Mappe. Ihre Finger verweilten dort kurz, dann zogen sie
die Mappe heraus und schlugen sie auf. Unterlagen vom Missionsinstitut
Neumünster. Weitere Schreiben mit offiziellem Briefkopf. Was tat sie da
eigentlich? Gerade wollte sie die Mappe zuklappen und wieder an ihren Platz
zurücklegen, als ihr Blick an einem Schreiben hängen blieb, das sich von all
den anderen unterschied. Ihm fehlte der Briefkopf, und es war nicht mit
Maschine geschrieben, sondern in einer runden, verspielten Handschrift.
Plötzlich wurde ihr
bewusst, was sie da tat. Sie wühlte in Pauls persönlichen Dingen! Wenn er jetzt
zur Tür hereinkäme, wäre er zu Recht wütend auf sie. Sie lauschte. Nein, da war
kein Geräusch, nur das gleichmäßige Stampfen der Turbinen. Mit feuchten Fingern
nahm sie den Brief.
Lieber Paul,
Du fehlst mir so sehr. Ich fühle mich
schrecklich allein. Ich weiß, dazu habe ich kein Recht, Gott hat diesen Weg für
mich bestimmt ... Du kannst Dir nicht vorstellen, wie es ist, mit einem Mann
leben zu müssen, den du fürchtest. Warum bist Du nicht da, Paul? Es gibt
niemanden hier, dem ich mich anvertrauen kann. Und wenn das Kind kommt, was
schon in einem Monat sein wird, und es ihm ganz und gar nicht ähnlich sieht,
dann werde ich ihm nichts mehr verheimlichen können. Ich bete Tag und Nacht,
dass Gott ein Einsehen hat mit mir. Ich kann nur beten ...
Ich verspreche Dir, was geschehen ist, wird
unser Geheimnis bleiben. Niemals sollst Du meinetwegen in Schwierigkeiten
kommen.
Deine Line
Erstarrt hielt Emma den
Brief in ihren Händen, las ihn noch einmal. Nein, sie hatte sich nicht
verlesen. Da stand Paul - ganz deutlich, mit schwarzer Tinte auf
gelblichem linierten Papier. Ihr Herz stolperte. Warum bist du nicht da ,
las sie. Paul, schrie es in ihr, was hast du getan? Und wenn das Kind kommt
und es ihm ganz und gar nicht ähnlich sieht, dann werde ich ihm nichts mehr
verheimlichen können. Sie musste langsam und tief ein-und ausatmen. Jetzt
begriff sie, warum er so ausweichend auf ihre Frage nach anderen Frauen
geantwortet hatte! Mit zitternden Händen legte sie schließlich den Brief
zurück, klappte die Mappe zu, schob sie zwischen die Kleidungsstücke, ordnete
die Hemden, verschloss den Koffer, verstaute ihn unter dem Bett und sank
kraftlos auf die Bettkante. Und jetzt? Sie konnte ihm doch nicht sagen, dass
sie in seinen Sachen herumgewühlt und diesen Brief gelesen hatte. Hatte er sie
denn wirklich von Anfang an getäuscht? Was sollte sie nur tun? Sie war mitten
auf dem Ozean, auf dem Weg ans andere Ende der Welt – sie konnte nicht
einfach umkehren! Sie hatte ja noch nicht einmal das Geld, um im nächsten Hafen
von Bord zu gehen und eine Schiffspassage in die Heimat zu bezahlen! Wenn sie
an ihr weiteres Leben dachte, fühlte es sich an, als würde sie eine Glasscherbe
hinunterschlucken.
Sie betrachtete sich im
Spiegel an der Wand gegenüber. Wer bist du?, fragte sie ihr Spiegelbild. Und
was willst du in deinem Leben? Sie wartete auf eine Antwort. Das Gesicht mit
der glatten, von der Sonne getönten Haut blickte sie mit leeren Augen an. Du bist das, was du tust , erinnerte sie sich plötzlich an
den Ausspruch ihres Vaters. „Sieh in den Spiegel“, hatte er gesagt, „prüfe, ob
du dir ohne Scham und Schuldgefühl in die Augen sehen kannst.“ „Vielleicht“,
sagte sie zu sich, „hat er seine Gründe, dass er mir noch nichts von dieser Frau
erzählt hat. Vielleicht wird er es irgendwann tun. Vielleicht ist sie ja auch
tot. Ich werde stark sein, werde ihn trotzdem lieben – und warten, bis
auch er die Kraft hat, mir zu vertrauen.“ Ihr Spiegelbild versuchte ein
Lächeln. Als sie wieder oben an Deck war, wich sie Pauls Blick aus.
In den folgenden Tagen
wurde es wieder kälter. Es ist Juli, dachte Emma und erinnerte sich wehmütig an
die heißen Sommertage zu Hause, wo die Wiesenblumen dufteten, Bäume in vollem
Laub standen, und wie sie manchmal an warmen Sonntagnachmittagen mit Vera und
anderen Freundinnen zum Picknick ins Grüne gefahren war. Was waren das für
herrliche Stunden gewesen! Nun, sagte sie sich und beendete rasch diesen Anflug
von Sentimentalität, auch in Australien würde es ja einen Sommer geben. Eben zu
einer anderen Zeit.
Es fiel ihr schwer, Paul
gegenüber den Brief nicht zu erwähnen
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