Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)
Liebe, Zusammengehörigkeit, Vertrauen? Sosehr
sie sich auch bemühte, nichts davon stellte sich ein. Nur diese tiefe Traurigkeit,
allein zu sein, stieg in ihr auf. Ich muss diesen Brief vergessen, sagte sie
sich, er soll und darf keine Bedeutung für mich haben. Wir haben eine
gemeinsame große Aufgabe! Sie sah ihn von der Seite an. Er ahnte nichts von
ihren Seelenqualen. Hatte er nicht bemerkt, dass sie sich verändert hatte?
Vor ihnen erhob sich die
Kaimauer. Schemen von Pferdedroschken, Automobilen und Menschen tauchten aus
dem unbestimmten Grau der Ferne auf, gewannen an Kontur und wurden schließlich
so klar, dass die Passagiere auf der Britannia ihre Verwandten erkannten
und ihnen aufgeregt zuriefen und zuwinkten. Taue wurden geworfen, eilig und
gekonnt um die Pfosten geschlungen,
Wasser klatschte an Kaimauer und Bordwand, metallene Gelenke knirschten,
während das Dröhnen der Turbinen zu einem leiseren Röhren wurde, das
schließlich erstarb. Mit donnerndem Rattern wurde die Landungsbrücke ausgelegt,
dann waren nur noch das Gluckern des Wassers, das Jubeln der Menschen, die
Zurufe der Matrosen und das Getrappel unzähliger Schritte auf der
Landungsbrücke zu hören.
Um kurz nach neun Uhr,
gleich nach den Passagieren der ersten Klasse, verließen Emma und Paul Schott
die Britannia . Sie schleppten ihre vier großen Koffer selbst, da Paul
nicht warten wollte, bis sie von Trägern an Land geschafft wurden. Sie würden
von einem Mitglied der Lutherischen Kirche abgeholt, und Paul wollte ihm nicht
zumuten, zu lange zu warten. Emma wollte widersprechen, wollte darauf
hinweisen, dass es dem Mitglied der Lutherischen Kirche sicher nicht auf zehn
oder sogar dreißig Minuten ankäme, schließlich habe die Britannia ja
exakt nach Fahrplan den Hafen erreicht – doch sie wollte nicht gleich
jetzt, bei der Ankunft, Paul widersprechen, der so darauf brannte, endlich an
Land zu gehen. Also schleppte sie ihre beiden Koffer selbst, die mit jedem
Schritt schwerer zu werden schienen.
Sie konzentrierte sich
auf Pauls Rücken vor sich und biss die Zähne zusammen. Sie wollte auf keinen
Fall gleich aufgeben. Was würde Paul denken? Wie sollte sie Australiens Eingeborene
zu Christen machen, wenn sie es nicht einmal schaffte, ihr eigenes Gepäck ein
paar Meter weit zu tragen? So versuchte sie mit Paul Schritt zu halten. Kurz
kam ihr das Bild von der Arche Noah in den Sinn, wie musste es da zugegangen
sein, als die Tiere endlich wieder an Land gehen konnten! Doch schon spürte sie
ein Gepäckstück im Rücken, und der stechende Schmerz holte sie zurück nach
Adelaide, auf den Landungssteg der Britannia.
Als sie schließlich auf dem Pflaster
des Kais stand, stellte sie die beiden Koffer mit einem unterdrückten Ächzen
neben Pauls Koffern ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war hier
an Land viel wärmer als noch vor einer Stunde auf See. Ihr Wintermantel war
viel zu warm. Aber da sie keine Hand frei hatte, um ihn zu tragen, behielt sie
ihn an. Inmitten sich umarmender und Freudentränen vergießender Menschen,
schrillem Kindergeschrei und aufgeregtem Hundegebell fühlte sie sich noch
einsamer. Würde sie sich hier jemals heimisch fühlen? Wann und mit welchen
Erinnerungen würde sie dieses Land wieder verlassen? Würde sie es überhaupt je
wieder verlassen? Sie dachte an Ottmar und Hilde Friedrich und sah zum Schiff
zurück. Hinter den letzten Passagiere trugen je vier Stewards mit ernstem
Gesicht die beiden Särge aus hellem Holz über die Landungsbrücke. Der quirlige
dicke Mann hatte sich Sorgen um sie gemacht. Das hatte sie gerührt. „Emma!“,
hörte sie Paul ungeduldig rufen. „Wo bleibst du?“ Sie warf einen letzten Blick
zum Schiff, nahm die Koffer wieder auf und drängte sich durch die
Menschenmenge.
„Hallo!“ Hinter einem
Haufen Koffer und Kisten konnte Emma einen Mann ausmachen, der mit dem Hut
winkte. „Pastor Schott?“, hörte sie ihn rufen. „Ja!“, rief Paul und schob sich
zwischen den herumstehenden Menschen durch. Emma hastete hinter ihm her. Die
Koffer waren schwer wie Mühlsteine geworden. Mit zusammengebissenen Zähnen
kämpfte sie sich durch die Menge, stieg über eine dicke Teppichrolle, stolperte
zwischen zwei großen Männern durch, bis sie endlich den Platz erreichte, auf
dem Automobile und Pferdedroschken parkten. Gepäck wurde auf Dächer gehoben,
ins Wageninnere gestopft oder auf Heckklappen festgeschnallt; Autos
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