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Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)

Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition)

Titel: Das Leuchten der purpurnen Berge (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Manuela Martini
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und ihm vertrauensvoll zu begegnen.
    Manchmal hoffte sie, den Brief einfach vergessen zu können, ja, sie hatte sich
    sogar einzureden versucht, dass sie sich den Brief nur eingebildet hatte. Doch
    ihre Selbsttäuschung funktionierte nicht. Das gelbliche Stück Papier mit der
    feinen Linierung und der geschwungenen Tintenschrift stand deutlich und klar
    vor ihrem inneren Auge. Mehrmals hatte sie Paul fragen wollen, wer LINE ist.
    Die Worte hatte sie sich schon zurechtgelegt, doch dann hatte sie den Mund
    wieder geschlossen. Ich werde warten, sagte sie zu sich, bis er Vertrauen und
    Mut gefunden hat. Doch wenn er den Arm um sie legte, zuckte sie zusammen.

    12
    Am 4. Juli 1922 legte
    die Britannia in Perth an. Mehrere hundert Passagiere verließen das
    Schiff, und viele wurden von Verwandten überschwänglich begrüßt. Die Familie
    mit den Kindern hatte sich von Paul verabschiedet, und Emma sah zu, wie die
    Kinder, von den Eltern ermahnt, brav und geordnet die Treppe hinuntertrabten.
    Alle im Matrosenanzug, eine Leinentasche über die Schulter gehängt. Die
    hinkende Frau lächelte Emma noch kurz zu, bevor sie von Bord ging. Emma hatte
    nie ihren Namen erfahren, nur dass sie vor ihrem Autounfall Tänzerin gewesen
    war und dass sie zu ihrer Schwester in Perth zog.
    Drei Tage später, am 7.
    Juli, um kurz nach sechs Uhr morgens steuerte die Britannia zwischen der
    York Peninsula und der Spitze von Kangaroo Island hindurch auf die tief ins
    Land hineinragende Bucht von Adelaide zu. Obwohl ein kalter Wind vom Pol her
    wehte, der das Wasser in kurzen, schnellen Wellen vor sich her trieb und auf
    den Decks der Britannia jedes liegen gebliebene Stück Papier, jeden
    vergessenen Schal wegfegte, ließen es sich Emma und Paul nicht nehmen, die
    Einfahrt in die Bucht, an deren Anfang Adelaide lag, mitzuerleben. Feuchter
    Morgendunst überzog die Reling und dampfte über dem Wasser. Die kalte Luft ließ
    den Ruß aus den roten Schornsteinen nicht aufsteigen, und so senkte er sich
    ölig aufs Deck. Trotz ihres Mantels aus schwerem Wollstoff, den sie schon kurz
    vor Perth aus dem Koffer genommen hatte, zitterte Emma vor Kälte. Besonders die
    letzten Wochen in den warmen Breiten des Äquators hatten sie verwöhnt.
    Schon zeigte sich im
    Osten ein heller Schein, bald würde sich das Grau des Wassers und des Himmels
    färben: pink, orange und rot. Unzählige Sonnenaufgänge hatte Emma in den Wochen
    auf See beobachtet. Doch dieses Schauspiel anzusehen würde sie niemals müde werden,
    das wusste sie. Denn jedes Mal spürte sie dabei das immer gültige,
    unveränderbare Gesetz der Natur von Tod und Geburt, von Anfang und Ende, und
    das tröstete sie. Sicher und ohne Zwischenfälle passierte der metallene Schiffskörper die heimtückisch zerklüftete
    Küste, an der in den vergangenen hundertfünfzig Jahren mehr als zweihundert
    Schiffe zerschellt waren. Besatzungen und Passagiere, nach unendlichen Tagen
    auf See schon das ersehnte Ufer vor Augen, waren ertrunken.
    Was fand man alles auf
    dem Meeresboden oder an seichten Uferstellen? Schaukelstühle, Kisten mit
    Kinderspielzeug und gehäkelten Deckchen, feine Bettwäsche und gewienerte
    Stiefel, Broschen und Brillen, Spielkarten und Spieluhren, Bürsten und Sägen,
    Schachteln mit Nägeln und Schrauben, Kristallgläser und Servietten, silbernes
    Besteck und dünnwandiges Teegeschirr. Manche Tasse, aus London, Manchester oder
    Hamburg mitgenommen, blieb
    unbeschädigt und fand ihren Platz in der Vitrine eines stolzen Strandgutsammlers.
    Nur die Toten - die holten sich meist die Haie, hatte Emma gelesen, und dabei
    war ihr ein Schauer über den Rücken gekrochen.
    Plötzlich blies der Wind
    nicht mehr, und das Wasser war glatt wie ein Spiegel. Mit gedrosselten
    Maschinen glitt die Britannia langsam in die offenen Arme von Adelaide.
    „Das ist das Land, in das Gott uns geführt hat“, sagte Paul ehrfurchtsvoll in
    ihr Schweigen hinein. Er hatte den steifen Mantelkragen hochgestellt. Er sah
    aus, als habe er eine Rüstung angelegt. Sein rotes Haar, das die ersten
    Sonnenstrahlen auffing, war vom Wind zerwühlt, was ihm etwas Kämpferisches
    verlieh: Nichts würde ihn von seinem Auftrag abbringen; alles, was sich ihm in
    den Weg stellte, würde besiegt, schoss es Emma durch den Kopf. Hastig wischte
    sie das Gedachte wieder weg und griff nach seiner Hand, die die Reling so fest
    umklammerte, dass die Knöchel weiß hervortraten. Was hatte sie bei der
    Berührung erhofft? Ein Gefühl von

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