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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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nicht doch lieber alles für ein einziges Sechs-Gänge-Menü bei Hartmanns ausgeben und danach Privatinsolvenz anmelden wollte. Er konnte sich eine Entscheidung fürs Hartmanns erlauben, er war nur noch für sich selbst verantwortlich, seit Nives vor zwei Jahren ihr Jurastudium mit summa cum laude abgeschlossen hatte und gleich von Ernst & Young geschluckt worden war. Sie lebte in Zürich, arbeitete im dortigen Schweizer Hauptsitz der Firma und warf ihm vor, als Vater nie da gewesen zu sein. Sie hatte recht, aber jetzt bin ich da, dachte er, und jetzt hat sie keine Zeit. Seit seiner Rückkehr aus Afghanistan vor einem Jahr rief er sie alle zwei Wochen an und sagte, Nivchen, wann sehen wir uns, wann bist du wieder mal in Berlin, ich könnte auch nach Zürich kommen, ich hab gerade nicht so viel um die Ohren. Und sie sagte, du, ich bin wirklich am Anschlag im Augenblick, ich würde gern, aber ich seh’s einfach nicht, hier geht’s drunter und drüber, lass uns mal den Herbst ins Auge fassen, dann kann ich mir vielleicht drei Tage freischaufeln. Wenn sie freischaufeln sagte, empfand er das Bedürfnis, sofort nach Zürich zu fliegen und sie da rauszuholen.
    Das Kalbsbries kam, und Martens hielt seine Nase darüber und atmete den Duft ein. Er aß das Bries und die mit getrüffeltem Lauch verfeinerten Nierchen mit halb geschlossenen Augen auf, er dachte, es bleibt mir gar nichts anderes übrig.
    Er bestellte einen Kaffee mit Grappa und rief Busch an.
    Jetzt noch?, sagte Busch. Ist das nicht ein bisschen spät? Kannst du mir das nicht auch morgen erzählen?
    Nein, jetzt, sagte Martens, hier wartet ein Coulant von der Manjari-Schokolade mit Blutorangen auf dich. Und eine Geschichte, die du im Blatt haben willst.
    Busch
    Die kleine Gesellschaft verließ das Hartmanns, und für ein paar Minuten war Martens der einzige Gast. Dann erschien Busch, in einem beigen Pullover und einer Hose mit Bügelfalten. Die krautigen weißen Haare hatte er wohl auf der Herfahrt im Wagen nach hinten gekämmt, aber sie hatten sich bereits wieder aufgerichtet, er sah aus, als komme er aus dem Bett. Als Chefredakteur des Wochenspiegels gehörte Busch zu den einflussreichsten Journalisten des Landes, und es schmeichelte Martens, dass Busch sich kurz vor Mitternacht seinetwegen noch hierherbewegte.
    Das Coulant stand bereits auf dem Tisch, aber Busch schob den Teller beiseite und sagte, Moritz, ich muss morgen früh raus. Ich bin deinetwegen hier, nicht wegen des Desserts.
    Dann ess ich’s, sagte Martens und zog den Teller zu sich.
    Geht’s dir gut?, fragte Busch. Du hast zugenommen. Wann haben wir uns zum letzten Mal gesehen?
    Vor einem halben Jahr, sagte Martens, das Coulant schmeckte herrlich, die Schokolade floss ihm entgegen, es war, als würde man ein kleines Paradies anstechen. Ich habe dir eine Reportage angeboten, über die Frau in Köln, deren Mann am selben Tag bei einem Autounfall starb, als sie Drillinge zur Welt brachte. Du hast sie abgelehnt.
    Ja, ich erinnere mich, sagte Busch, er faltete die Hände. Aber das war nicht deine Geschichte, Moritz. Sie hat dich gar nicht interessiert. Das hat man dir angemerkt, als du sie vorgeschlagen hast.
    Busch sah alt aus, müde von innen heraus, in seinen Augen lag eine Traurigkeit.
    Ich habe heute eine Frau kennengelernt, sagte Martens.
    Er erzählte Busch die Geschichte, in knappen Worten, er musste nicht viel erklären, denn Busch kannte sich mit den afghanischen Verhältnissen aus, war vor einigen Jahren selber dort gewesen, als Mitglied der Entourage des damaligen deutschen Verteidigungsministers bei dessen Besuch des Camps Marmal in Mazar-i Sharif.
    Als Martens fertig war, sagte Busch, lass mich das mal zusammenfassen. Du hast da also eine Bacha Posh, die aus ihrem Dorf flieht, weil sie ein Junge bleiben will. Sie schließt sich den Taliban an, und jetzt hat sie Angst, dass die merken, dass sie ein Mädchen ist. Das ist eine gute Story, Moritz. Fast zu gut. Warum ist sie überhaupt zu den Taliban gegangen? Sie muss doch wissen, dass das für sie gefährlich ist. Wie erklärst du dir das?
    Sie hatte kein Geld, sie hatte Hunger, sie wusste nicht, wohin, sagte Martens. Ein Talibankämpfer verdient mehr als ein Lehrer in Kabul, du hast immer was zu essen, einen Schlafplatz, und die Gruppe beschützt dich.
    Ja, aber das Mädchen muss ganz schön naiv sein, sagte Busch. Sie hat sich ja nicht irgendwelchen Taliban angeschlossen, sondern der Gruppe von Dilawar Barozai. Er schneidet Mädchen, die

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