Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
tippte: Und woher weiß er es?
Er gehört zu Dilawars Gruppe, tippte sie.
Komm, sagte Martens. Gehen wir spazieren.
Keine Fragen
Sie folgte ihm nach draußen. Wolken eilten an der Sonne vorbei, ein schneller Wechsel von Licht und Schatten, von Wärme und Kühle. Der böige Wind wehte einem Staub in die Augen, fuhr einem durchs Haar, und er machte die Fahnen an den Stangen verrückt. Sie setzten sich hinter der Baracke an einer windgeschützten Stelle hin, am Himmel torkelten drei kleine Vögel im Wind.
Dieser Chargul, sagte Martens, ist also einer von Dilawar Barozais Männern?
Ja, sagte Miriam.
Und er hat dir die Geschichte von der Bacha Posh erzählt?
Nein, nicht er.
Wer dann, Miriam?
Chargul wird uns morgen zu Malalai bringen. Sie heißt Malalai, kannst du dir das nicht merken?
Ich kann es mir vielleicht nicht merken, weil ich gerade ein bisschen verwirrt bin. Jetzt gibt es plötzlich zwei Informanten. Einer bringt uns zu Malalai, der andere hat dir von ihr erzählt. Weiß Chargul, dass Malalai ein Mädchen ist?
Nein, sagte Miriam.
Bist du sicher?
Ja.
Falls er es nämlich weiß, sagte Martens, können wir uns das Treffen mit ihm sparen. Wenn er es weiß, erpresst er Malalai wahrscheinlich, und die zehntausend Dollar wird er selber einstecken.
So ist es nicht, sagte Miriam. Sie stand auf, schwankte, stützte sich an der Barackenwand ab. Martens erhob sich und legte den Arm um sie.
Alles in Ordnung?, fragte er.
Nein, sagte sie. Mir ist schwindlig. Sie lehnte den Kopf an seine Brust. Es ist alles so schwierig, sagte sie.
Was ist denn schwierig?
Wir müssen da hingehen, morgen, sagte sie. Bitte frag nicht mehr. Frag einfach nicht mehr. Du bist … sie schaute ihn an, verwundert, sie strich ihm durchs Haar. Du bist wirklich der erste Mann seit Langem, sagte sie, dem ich alles erzählen möchte. Gestern habe ich dir von meinem Vater erzählt. Dass er seinen Bruder umgebracht hat. Und du hast einfach nur zugehört. Ich habe das überhaupt erst zwei Menschen erzählt. Dorle weiß es und du. Nicht einmal Evren habe ich es erzählt, meinem früheren Mann. Man wird nicht liebenswerter dadurch, dass der eigene Vater seinen Bruder getötet hat. Das färbt ab. Ich hatte Angst, dass Evren mich weniger liebt und dass ich meine Freiheit verliere. Denn er hätte es ausgenutzt. Bei jedem Streit hätte er mir zu verstehen gegeben, dass ich gefährlich bin und vielleicht das Messer zücke wie mein Vater. Ich habe es ihm nicht erzählt, weil ich ihn liebte und gleichzeitig wusste, dass ich ihm nicht trauen konnte. Dorle habe ich es erzählt, weil ich ihr vertraue und weil ich weiß, dass sie ehrlich ist mir gegenüber. Wir haben oft darüber gesprochen, über die Jahre hinweg immer wieder, und sie sagt heute noch, dass es ihr zu schaffen macht und sie manchmal gewisse Eigenschaften von mir unwillkürlich mit meinem Vater in Verbindung bringt. Aber du hast einfach nur zugehört. Ich glaube, du bist der Erste, der wirklich versteht, warum mein Vater das getan hat.
Das ist in meinem Fall keine Tugend, sagte Martens.
Ja, aber das ist mir in meinem Fall egal, sagte sie. Sie legte die Arme um seinen Nacken und küsste ihn.
Tust du das, damit ich keine Fragen mehr stelle?, sagte er.
Dann hätte es ja nicht gewirkt, sagte sie.
Tiefen
Seit vielen Jahren gehörte zu Martens’ Leben die Vorstellung, einer Frau zu begegnen, mit der alles wie von selbst geschah. Er hatte sich das oft vor dem Einschlafen vorgestellt: Er trifft eine Frau, er verliebt sich in sie auf eine magische Weise. Es ist nicht Liebe auf den ersten Blick, es ist Liebe, die schon immer da war, schon vor dem ersten Blick. Es ist die vollkommene Begegnung, das Zusammentreffen zweier Menschen, die sich zuvor nicht kannten und jetzt das Gefühl haben, nie getrennt gewesen zu sein. Sie schlafen traumwandlerisch miteinander, alles geschieht von selbst ohne jedes Kalkül, ohne Erwartung, ohne Befürchtung, ohne Raffinesse. Es geschieht von selbst, so wie die Brandung über den Strand rauscht und der Mond am Abendhimmel aufgeht. Er zieht über den Himmel, Sterne hinterlassend, und die Sonne bricht hervor, steigt auf, die Planeten kreisen um sie, die Galaxien wirbeln um sich selbst und entfernen sich in die weiten, leeren Räume. Und dies alles geschieht, ohne dass jemand einen einzigen Gedanken dazwischenschiebt.
Sie lagen auf dem Feldbett in seinem Zimmer, ihr Kopf auf seiner Brust, der Geruch ihres Haars, der umgestürzte Stuhl, Kleider, die verstreut worden
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