Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
Vom Netzwerk:
Trennung nur die Einleitung zu einem Neuanfang in ein paar Monaten, in einem Jahr, er konnte es nicht beurteilen. Er konnte Miriam nicht beurteilen. Er hatte gestern, als er ihr Rilke vorgelesen hatte, Entzücken in ihren Augen gesehen, und sie hatte sein Gesicht berührt und ihn schweigend angeschaut, voller Zuneigung. Das war verbindlich gewesen. Heute Morgen, als er sie zum Frühstück abholte – sie hatten nicht im selben Bett übernachtet, dafür war es zu schmal –, war der Zauber aber verflogen gewesen. Er hatte in ihren Augen keine Freude darüber erkennen können, dass sie ihn wiedersah. Sie hatte sich ihm gegenüber sachlich verhalten, so als wolle sie nicht mehr an die vergangene Nacht anknüpfen.
    Wir müssen um drei Uhr in Feyzabad sein, hatte sie gesagt, hast du mit Seegemann schon darüber gesprochen?
    Er hatte versucht, die Nähe wiederherzustellen, indem er sie küsste, er sagte, ich wollte erst dich sehen, das war mir wichtiger.
    Und du erinnerst dich, hatte sie gesagt, worüber wir gestern gesprochen haben? Ich meine vor dem ersten Kuss.
    Der erste war vorgestern, hatte er gesagt. Meinst du den ersten richtigen?
    Ja, hatte sie gesagt, ungeduldig, ein wenig verärgert.
    Ist etwas?, hatte er gefragt, und sie hatte von Müdigkeit gesprochen und, nachdem sie merkte, dass ihn das nicht überzeugte, von Schwindel, von ihrem niedrigen Blutdruck.
    Martens ging hinüber zur Kommandobaracke, um mit Seegemann zu sprechen. Er versuchte, nicht so empfindlich zu sein, was Miriam betraf. Er hatte sich in sie verliebt, das war doch etwas Wunderbares! Ein Wert an sich. Vielleicht hatte sie nur schlecht geschlafen, oder es war wirklich ihr Blutdruck, und Evren, Evren war nur der erste in einer langen Reihe von Männern, die ihm noch Sorgen bereiten würden, falls zwischen Miriam und ihm etwas Bleibendes entstand.
    Bevor er die Kommandobaracke betrat, labte er sich noch einmal am Blau des Himmels. Die Sonne stand ganz still am Himmel, aber ihre Wärme war spitz. Wenn man ihr das Gesicht zudrehte, spürte man die Haut brennen, es war eine gefährlich kräftige Gebirgssonne. Über den Bergen entstanden durchsichtige Wölklein, Fetzen nur, die aus dem Nichts auftauchten und die sich vor Martens Augen sogleich wieder auflösten. Es geschah in bezaubernder Leichtigkeit, ein Hervor- und Zurücktreten wie bei einem höfischen Tanz. Martens bekam Lust, es mit einer annähernd entsprechenden Musik zu genießen. Er rief auf seinem iPhone Bach auf, Wenn wir in höchsten Nöten sein, steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und betrachtete das Werden und Vergehen der Wolkenfetzen über den Bergwipfeln. Es war tröstlich zu sehen, dass das Werden viel interessanter war als das Vergehen. Es war großartig, wenn etwas aus dem Nichts hervortrat und eine unvorhersehbare, einzigartige und vollkommen individuelle Gestalt annahm. Das Ende war dann nur gewöhnlich, alles Einzigartige löste sich auf dieselbe Weise auf, darin lag nichts Individuelles mehr.
    Vergehen
    Seegemann erteilte Martens die Bewilligung, nach Feyzabad zu fahren, ohne Umstände. Er unterrichtete einen gewissen Oberfeldwebel Tremmel telefonisch, dass zwei Journalisten heute die Patrouille begleiten würden, und nannte Martens Zeitpunkt und Ort, an dem er und Miriam sich einfinden mussten: 13.00 Uhr beim Wagenpark.
    Und richten Sie Frau Marwat einen Gruß von mir aus, sagte Seegemann am Ende des kurzen Gesprächs.
    Gern, sagte Martens.
    Er ging zurück zur Baracke, diesen Weg hatte er in den zwei Tagen nun schon oft zurückgelegt, auch weil es sehr viel mehr Wege im Camp nicht gab. Er war froh, es endlich verlassen zu können, er spürte schon wieder diesen Widerstand gegen alles, das sich einschliff. Martens Widerwillen gegen die Repetition ging manchmal so weit, dass er zu Hause die Dusche auf einem Bein hüpfend verließ, nur damit sich dieses Duschen vom Duschen aller anderen Tage unterschied. Während seiner Ehe mit Sandra, wenn er zwischen zwei Reisen in Kriegsgebiete gezwungen gewesen war, längere Zeit in Berlin zu bleiben, hatte er in der gemeinsamen Wohnung schon bald jeden Tag dieselben Bewegungen ausgeführt, es hatte sich nicht verhindern lassen. Er war denselben Pfaden gefolgt, vom Bett zum Bad, vom Bad zum Kühlschrank, vom Kühlschrank zum Esstisch mit Blick auf den Kastanienbaum. Der Kastanienbaum hatte im Herbst die Blätter abgeworfen, im Winter hatte er Schnee getragen, im Frühjahr Knospen ausgetrieben, und Sandra hatte diesen Kreislauf geliebt.

Weitere Kostenlose Bücher