Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Fotografen, mit denen er unterwegs gewesen war, sowieso. Der Fotograf Carlsen, mit dem er Jahre unterwegs gewesen war, hatte ihm beigebracht, sich dem Leiden zu stellen. Auch wenn du nur darüber berichtest, hatte Carlsen gesagt, bist du trotzdem immer beteiligt. Wenn du versuchst, dich von dem, was du siehst, zu distanzieren, wird es dich eines Tages einholen und nie mehr loslassen. Wenn du dich distanzierst, wirst du an diesem Job zerbrechen. Das war zu Martens’ Maxime geworden. Er hatte sich seinem Entsetzen gestellt und sich nicht auf seine Position als neutraler Beobachter zurückgezogen. Denn nur Zuschauer zu sein, nichts tun zu können, war schon schlimm genug. Dann aber auch noch zu versuchen, so wenig wie möglich zu empfinden, das machte einen vollends zum Gespenst.
Das Bedeutsame aber war, dass Martens, wenn er Sandra, Lukas oder jemand anderem von seinen Erfahrungen erzählt hatte, noch nie überwältigt worden war von dem Schmerz, der mit diesen Erfahrungen zusammenhing. Diese Erfahrungen bestanden aber überhaupt nur aus Schmerz. Es waren keine Erinnerungen, die sich aus Erlebnissen, Bildern, Wörtern zusammensetzten: Es war purer Schmerz. Und es war ein einziger Schmerz, der sich nicht zerlegen ließ in einzelne Erlebnisse im Sudan, in Jugoslawien, wo auch immer. Der Schmerz war das Ergebnis aller Erlebnisse, und man konnte über ihn nicht sprechen, er ließ sich nicht in Worte fassen. Man konnte ihn anderen nur mitteilen, wie es Martens gerade tat: indem man in den Armen eines Menschen weinte, bei dem man es geschehen lassen konnte. Aber diesen Menschen musste man erst einmal finden.
Und sie ist dieser Mensch, dachte er. Er las Miriam eine Stelle aus seinem Rilke-Buch vor.
Und du wartest, erwartest das Eine,
das dein Leben unendlich vermehrt;
das Mächtige, Ungemeine,
das Erwachen der Steine,
Tiefen, dir zugekehrt.
III | Aufstieg
Das Werden
Er stand im Korridor und horchte. Hinter der dünnen Tür hörte er Sinans Stimme, sie skypten. Sinan sagte, dass er einen Hund will, dass er für den Hund selber sorgen wird, er wird ihn füttern und mit ihm zu den Bäumen gehen. Mama, ich will unbedingt einen Hund, wir können ja einen kleinen kaufen, dann passt er in die Wohnung, bitte! Miriam fragte ihn, ob er heute wieder mit Dorle zum Müggelsee gehe, und er rief, aber ein Hund ist für Kinder gut, und Papa mag Hunde auch! Miriam sagte etwas, leise, Martens konnte es nicht verstehen. Dann hörte er wieder Sinans Stimme, er sagte, aber ich will mit Papa sprechen! Er hat doch auch einen Computer. Dann kann er doch auch mit mir skypen. Du willst nur nicht, dass er mir einen Hund kauft, weil du keinen willst.
Papa ist bald wieder da, sagte Miriam.
Ist er mit dir in England bei der Königin?, fragte Sinan.
Nein, sagte Miriam, du weißt doch, wo er ist.
In Amerika?, fragte Sinan.
Ja, in Amerika, sagte Miriam.
Ich vermisse Papa, sagte Sinan, das ist schlimm, wenn man jemanden vermisst.
Ja, das ist schlimm, sagte Miriam, ich vermisse ihn auch.
Martens ging nach draußen, zündete sich eine Zigarette an, die ihm nicht schmeckte, und er dachte, wieso sagt sie das? Wieso in diesem Tonfall? Es hatte nicht danach geklungen, als hätte sie es nur Sinan zuliebe gesagt. Sie hatte es von Herzen gesagt, sie vermisste ihn wirklich. Evren. Ein Türke, deswegen hatten sie dem Sohn einen türkischen Namen gegeben. Evren war Gärtner, das hatte Miriam ihm am ersten Abend erzählt, und in seiner Freizeit schreinerte er sich seine Möbel selbst, fantasievolle, unkonventionelle Möbel. Gärtnern und schreinern, ein Mann mit Sinn fürs Ästhetische, aber auf einer unverkopften, handwerklichen Ebene. Kein großer Redner wahrscheinlich, aber einer, der mit Liebe über die Tischplatte strich, die er gerade abgeschliffen hatte. Dass er die kluge und dennoch erdige Musik von Led Zeppelin mochte, vervollständigte das Bild eines kunstsinnigen Handwerkers.
Martens drückte die Zigarette aus und blickte in den Himmel über dem Camp, er nahm das intensive Blau in sich auf wie eine Speise, sie war kraftspendend und animierte ihn zu lichten, hoffnungsvollen Gedanken, was die Zukunft betraf. Evren steckte als kleiner Stachel in ihm, aber so war es immer: Wenn man sein Herz an jemanden hängte, begab man sich in Gefahr. Was wusste er über Miriam? Wenig mehr als nichts. Vielleicht liebte sie Evren noch, er wusste nicht einmal, wie lange sie schon getrennt waren. Sie schien von Evren ernüchtert zu sein, aber vielleicht war die
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