Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
waren. Der Duft ihres Körpers und der Laken, der Dieselgeruch der Generatoren von draußen und das stete Brummen, Schritte auf dem Korridor, schwere Stiefel. Jemand klopfte an die Tür, aber sie schwiegen. Miriam zog sich die Decke über die Beine. Die Stiefel entfernten sich.
Kurz darauf klingelte Martens’ iPhone. Er beugte sich aus dem Bett, griff in seine Umhängetasche und stellte das Gerät auf stumm. Auf dem Display Ninas Name. Als ob sie es geahnt hätte. In Deutschland war es jetzt Mittag, sie rief aus ihrer Mittagspause an, das war ungewöhnlich und konnte bedeuten, dass es ihr nicht gut ging, dass sie unbedingt mit ihm sprechen musste. Sie hatte ihn erst zweimal aus der Mittagspause angerufen und stets aus dringendem Grund, einmal weil ihre Mutter im Supermarkt zusammengebrochen war.
Miriam legte sich auf ihn, ihr warmes Gewicht, und ihre Küsse, die er auf dieselbe geduldige Weise erwiderte. Sie konnten mit ihren Lippen schweigend miteinander sprechen, sie verstanden sich über die Berührungen, für Martens erfüllte sich ein Wunsch, der mit ihm älter geworden war. Nach dieser Harmonie der Küsse hatte er immer gesucht, aber erst einmal war es ihm gelungen, mit Sandra, und nicht so vollkommen wie jetzt. In Miriams Küsse konnte er sich hineinversetzen, er wusste, was ihre Lippen als Nächstes tun würden. Einmal spürte er ihre Zungenspitze, nur ganz kurz, es war ein Zeichen, dass ihre Küsse sich nun verändern würden, dass das spielerische Tänzeln vorbei war. Etwas Ungeduldiges, Heftiges brach hervor, und schließlich umschlangen sich ihre Zungen, sie rangen miteinander, schmatzten, wurden gierig und wollten nur noch fressen. Alle Geräusche im Zimmer wurden rhythmisch, der zuvor ruhige Fluss der Zärtlichkeiten verwandelte sich in eine Pauke, die sie in schnellen Schlägen vorwärtstrieb. Martens’ Stirnschweiß regnete auf Miriams Rücken hinunter, und anders als beim ersten Mal vorhin sah Martens jetzt bei vollem Bewusstsein, was hier geschah. Während vorher alles ohne einen einzigen Gedanken geschehen war, schoben sie sich nun dazwischen. Gedanken an Nina, die auf seinen Rückruf wartete, das Wort Rückruf war ernüchternd genug. Miriam stieß mit dem Kopf gegen die Zimmerwand, sie lachte kurz, er warf sie auf den Rücken und schaute ihr in die Augen. Er versuchte, wieder in den Zustand zu geraten, in dem alles ohne sein Zutun geschah, so wie der Regen fiel und die Erde sich drehte. Aber in diesen Zustand geriet man nicht, indem man ihn anstrebte, dieser Zustand musste über einen kommen, und je mehr Martens sich darum bemühte, desto weiter entfernte er sich. Am Schluss sogar so weit, dass er mit der Erinnerung an die Frau in Quatliam kämpfen musste, während er Miriams Hals küsste. Behrendt, der Stabsarzt, der auf die Frau geschossen hatte – wenn nicht du es warst, dachte Martens –, hatte die Burka hochgeschoben und zwei Finger auf die Halsschlagader der Frau gelegt.
Miriam nahm sein Gesicht in ihre Hände.
Was ist?, fragte sie.
Nichts, sagte er.
Du bist nicht mehr hier, sagte sie. Wo bist du?
Er glitt von ihr, in unbequemer Haltung lag er neben ihr auf dem viel zu schmalen Bett, er wischte sich mit einem Zipfel des Bettlakens den Schweiß von der Stirn.
Ich habe vielleicht eine Frau erschossen, sagte er. Und als er es sagte, war es, als würde er einen zuverlässigen Schutz verlieren und sich dem Unbekannten ausliefern. Er konnte nicht weitersprechen, aus allen Himmelsrichtungen strömte die Trauer zusammen, um ihn zu erdrücken und ihm den Atem abzuschneiden, seine Stimmbänder zu kappen. Er sah die Tränen aus seinen Augen spritzen, in Strömen presste die Trauer sie aus ihm heraus. Die Frau in Quatliam, noch so jung, ihr kinderlicher Mund, die Knochen im Kamin in Tuzla, der Knabe im Sudan mit den erloschenen Augen, der Arm, den das kleine unter Leichen begrabene Mädchen emporreckte, es floss alles aus ihm heraus. Aber während es aus ihm entwich und Miriam ihn umarmte und ihm die Hand auf die Stirn legte, wie einem Kind, das sich erbricht, wuchs die Trauer in ihm wieder nach, die Quelle des Schmerzes war unerschöpflich. Er hätte für den Rest seines Lebens weinen können, und es wäre trotzdem nichts ausgewaschen worden.
Aber dennoch war etwas Bedeutsames geschehen.
Er hatte das, was er auf seinen Reisen erlebte, nie für sich behalten, mit Ausnahme der Schüsse auf die Frau in Quatliam. Er hatte über alles mit Sandra gesprochen, mit seinem Freund Lukas, mit den
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