Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
kühl, und er konnte sich aufrichten. Der Familie passte es aber nicht, dass ausgerechnet Sherin Bazirs Leben gerettet hatte. Vor allem die Frauen befürchteten, dass Sherin nun die höchste Position unter ihnen beanspruchen könnte, und deshalb steckte seine Mutter Bazir die Medikamente in den Mund, die Gul Baz mitgebracht hatte. Schon bald hieß es im Dorf, die Medikamente hätten Bazir wieder gesund gemacht. Alle gratulierten Gul Baz und begegneten ihm mit größerem Respekt. Bazir aber erzählte jedem, dass Sherins Gebräu ihn gesund gemacht habe, und zog sich damit den Unmut seiner Familie zu. Seine Brüder, allen voran Gul Baz, warfen ihm vor, er beschmutze den Ruf der Familie. Aber Bazir nahm seinen kleinen Sohn auf den Schoß, und wenn Sherin ihm den Tee brachte, lächelte er sie an, und er lud sie ein, sich neben ihn zu setzen.
In der Nacht, wenn alles still war und man nur das ferne Bellen eines Hundes hörte, umfasste er Sherins Gesicht im Dunkeln mit beiden Händen. Er konnte sich jetzt vorstellen, sie mit nach Kabul zu nehmen.
Zwei Monate nach seiner Genesung arbeitete Bazir wie immer auf dem Feld. Der Herbst färbte schon die Erde und den Himmel, eine Kühle lag in der Luft. Um die Mittagszeit sah er Sherin schon von Weitem über die Felder auf sich zurennen. Sie stürzte hin, stand wieder auf und rannte schneller als zuvor. Bazir wusste, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste, und er dachte, dass sein Sohn vielleicht krank geworden war. Er rannte auf Sherin zu, und sie stürzten sich in die Arme. Sherin weinte, sie konnte lange nicht sprechen. Aber dann sagte sie, Gul Baz habe ihr etwas angetan.
Am Abend dieses Tages sagte Bazir zu Gul Baz: Rauch mit mir eine Zigarette.
Gul Baz sagte: Hör nicht auf das, was sie sagt. Sie hat den bösen Blick, sie lügt.
Bazir umarmte Gul Baz mit dem linken Arm. Er griff nach dem Kinn seines Bruders, drückte ihm den Kopf nach hinten und führte den Dolch über den Hals, wie man es bei einem Schaf tut. Es geschah vor aller Augen, im Innenhof des Gehöfts. Die Frauen konnten es sehen, die anderen Brüder, die Kinder, die in der noch milden Abendluft spielten, auch Bazirs Sohn, der aber noch zu klein war, um zu verstehen, warum sein Vater mit dem blutigen Dolch in der Hand in die Nacht hinausrannte.
Mein Vater ging nach Kabul, sagte Miriam. Er lernte Auto fahren und arbeitete ein Jahr lang als Taxifahrer, bis er genug Geld gespart hatte für den Flug nach Deutschland. Auf Deutschland kam er wegen Hitler. Er hätte auch nach England fliegen können, da kannte er auch jemanden: die Queen. Für einen einfachen Paschtunen, der auf dem Land lebt, ist die Welt außerhalb seines Dorfes sehr klein, es leben da nur Hitler, die Queen und die Juden. Zu den Juden wollte mein Vater nicht, und sein Großvater war im Kampf gegen die Queen gefallen, gegen die wiederum Hitler gekämpft hatte. Also entschied er sich für Hitler. 1962 kam er nach Deutschland, ein Jahr später lernte er in München während eines Wolkenbruchs meine Mutter kennen. Sie hatte keinen Schirm, und er hatte sich gerade zum ersten Mal in seinem Leben einen gekauft. Meine Mutter hieß Rebecca Singer, und so landete mein Vater schließlich doch bei den Juden, und zwar mit leuchtenden Augen. Sie haben sich sehr geliebt, sagte Miriam. Manchmal denke ich, es war eine Liebe, die es heute so gar nicht mehr gibt. Die erste Erinnerung meines Lebens ist die, wie mein Vater mich in der Küche auf den Arm nimmt und dann meine Mutter küsst, und der Dampf steigt aus den Töpfen.
Miriam legte den Kopf an Martens’ Schulter.
Nach einer Weile fragte er, hat dein Vater versucht, sich mit seiner Familie auszusöhnen?
Er hat seinen Bruder getötet, sagte Miriam. Da gibt es keine Versöhnung. Sie leben nach dem Stammesrecht, nach dem Paschtunwali. Vergebung kommt darin nicht vor. Als mein Vater später einmal die Bibel las, das Neue Testament, hat ihn das sehr beeindruckt. Dass man seinen Feinden vergeben kann. Das kannte er nicht. Wenn er in sein Dorf zurückgekehrt wäre, hätte er seiner Familie eine Entschädigung zahlen müssen, und wenn nicht, hätte einer seiner Brüder ihn töten müssen.
Und Sherin, fragte Martens, weißt du, was mit ihr passiert ist?
Sie ist in ihr Heimatdorf geflohen, sagte Miriam. Ihre Familie hat sie beschützt.
Und sein Sohn? Dein Bruder, dachte er, wollte aber das Wort nicht aussprechen.
Er wuchs bei einem Onkel meines Vaters auf, sagte sie. Es geht ihm gut. Im Gegensatz zu denen,
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