Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Lehrerin schickte eines der Mädchen weg. Kurz darauf brachte es Miriam einen Tschador. Miriam steckte der Lehrerin einen Geldschein zu. Die Lehrerin führte sie in einen der Räume. Unverputzte Wände, auf dem Boden lag ein staubiger Teppich, darauf bunte Kissen. Auf einem Gaskocher stand eine große, verbeulte Teekanne. Die Lehrerin schob das Tuch beiseite, das an einer der Wände hing, dahinter kam eine Tür zum Vorschein. Sie führte in einen verwilderten Garten, kleine, krumme Bäume, hohes Gestrüpp, ein Ziehbrunnen und überall Bauschutt. Eine Sandale und zerknüllte Softdrinkdosen lagen herum. Die Lehrerin drückte Miriam die Hand und verabschiedete sich.
An der Mauer standen einige Kisten.
Wir können auf die Kisten da steigen, sagte Miriam, und über die Mauer klettern. Es ist ein Fluchtweg für die Mädchen, falls die Schule angegriffen wird.
Was hast du der Lehrerin erzählt?, sagte Martens.
Dass ich einen Tschador brauche, sagte sie, und dass wir unbemerkt die Schule verlassen müssen.
Ja, aber aus welchem Grund? Sie hat doch bestimmt gefragt.
Nein.
Sie stiegen über die Mauer und gelangten in eine Straße. Sie waren allein, es war hier niemand unterwegs. Die Lehmmauern der einzelnen Häuser bildeten nach außen eine einzige Mauer, durchbrochen nur von den zweiflügligen, schmalen Türen. Hinter jeder Tür lebte ein Mann mit seinen Frauen und seinen Kindern. Die Mauern hielten die Frauen im Innern gefangen und schützten sie vor den Blicken des Nachbarn. In den Wohngebieten kleinerer afghanischer Städte ging man stets an Mauern entlang, Straßen waren die Wege zwischen den Mauern, form follows function.
Und jetzt?, fragte Martens.
Wir müssen hier lang, sagte sie.
Sie ging in ihrem schwarzen Tschador einen Schritt vor ihm. Zwei Männer kamen um die Ecke und blieben stehen, dachten nach: eine Frau, in einem Tschador, aber sie trägt eine Tasche über den Schultern, und sie trägt merkwürdige Schuhe, die aussehen wie Soldatenstiefel. Und der gelbhaarige Ausländer hinter ihr, was hat er hier zu suchen, stellt er ihr nach?
Der älteste der Männer sagte etwas zu Miriam, in herrischem Ton.
Miriam antwortete ihm im Vorbeigehen, das war er sicher nicht gewohnt. Seine Wangenmuskeln über dem weißen Bart gerieten in Bewegung. Er rief Miriam etwas nach, sie sagte, dreh dich nicht um, geh einfach weiter.
Es war eine lange Straße, die Mauern wollten nicht enden.
Martens hörte hinter sich Schritte, und nun drehte er sich doch um. Der Jüngere war ihm gefolgt, ein Mann mit zernarbtem, derbem Gesicht und Hass in den Augen. Der Mann blieb vor Martens stehen und senkte den Blick, um den Hass zu verbergen. Der Ältere, ein paar Meter entfernt, drückte ein Handy ans Ohr. Wahrscheinlich rief er Verstärkung.
Der Jüngere begann auf Martens einzureden, ohne ihn anzusehen. Er redete, spuckte aus, redete weiter.
Was sagt er?, fragte Martens.
Komm jetzt, sagte Miriam, geh einfach weiter. Sie denken, dass du mich belästigst. Ignorier sie. Wir sind gleich beim Teehaus.
Eine der Türen öffnete sich, und zwei junge Männer traten auf die Straße. Der eine trug einen schwarzen Turban, der andere die Pakol, die flache Mütze mit der gerundeten Krempe.
Die Verstärkung ermutigte den anderen, er blickte Martens jetzt direkt in die Augen und sagte, fock Amrika. Fock! Fock!
Die Burschen waren alle einen Kopf kleiner als Martens, und zwei von ihnen hätten in seine Hose gepasst. Es steckte eine gewisse Ironie darin, dass ausgerechnet er sich jetzt mit seiner Körpergröße Mut machte. In seiner ersten Reportage über Afghanistan hatte er den Größenunterschied zwischen den westlichen Soldaten und den afghanischen Männern beschrieben. Die meisten afghanischen Männer waren klein und schmächtig. Und nun standen sie diesen Riesen gegenüber, Männern aus Kentucky und Bayreuth, die in ihrer Kindheit keinen einzigen Tag Hunger gelitten hatten und die nun zu stattlicher Größe gemästet von oben auf sie hinunterblickten und auch noch besser bewaffnet waren. Warum hatte Allah die Kuffar, die Ungläubigen, so groß und kräftig werden lassen, warum hatte er nicht die Seinen zu Hünen gemacht? Das waren beunruhigende Fragen für einen afghanischen Mann. Wenn die Kuffar ein Dorf nach Waffen durchsuchten, fühlten sich die afghanischen Männer allein schon durch deren Wuchs gedemütigt. Wie konnten sie ihre Frauen gegen solche Männer verteidigen? Martens, der in Berlin nicht einmal die Durchschnittsgröße
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