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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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Es hatte ihr auch nichts ausgemacht, jeden Tag dieselben Verrichtungen auszuführen. Jeden Morgen nach dem Aufstehen klopfte sie ihr Kissen aus, und wenn Martens nach drei oder vier Wochen Wartezeit auf ein Visum dieses Geräusch des Kissenausklopfens gehört hatte, war er von einer Hoffnungslosigkeit übermannt worden. Noch während das Puffen der Kissen zu hören gewesen war, hatte er die für das Visum zuständige Botschaft angerufen und mehrmals das Wort dringend benutzt, um den Prozess und damit seine Abreise nach Liberia oder irgendwohin zu beschleunigen. Sandra hatte den Kastanienbaum geliebt, und am Tag bevor das Gartenbauamt ihn wegen Pilzbefalls fällte, hatte sie den Baum zehn, zwanzig Mal fotografiert, und Nives hatte ein Stück Rinde abgebrochen und es in ihrem Zimmer neben ihre Puppen gelegt, damit der Baum nicht allein war. Martens erinnerte sich: wie sie am nächsten Tag alle drei vor dem Baumstumpf standen, von dem der Geruch feuchten Holzes aufstieg. Sandra und Nives trauerten um den Baum, und ihm klebte von seiner letzten Reise das Bild von dem Mädchen im Massengrab noch im Kopf. Die Erinnerung an das Mädchen betäubte ihn, aber die Betäubung war nicht stark genug, um seinen Schmerz darüber zu lindern, dass er die Trauer über den Verlust des Kastanienbaums nicht mit den beiden teilen konnte. Kein Ereignis hatte an sich eine Bedeutung, die Bedeutung entstand erst durch die Nähe zu Menschen, die von dem Ereignis betroffen waren. Es war nur eine gefällte Kastanie, nichts im Vergleich zum Schicksal des kleinen Mädchens. Aber als sie vor dem Stumpf standen, wünschte er sich, er hätte hier mitleiden können, mit seiner Frau und seinem Kind.
    Er klopfte bei Miriam. Sie öffnete, sie war fahl im Gesicht. Er sprach sie nicht darauf an, wenn es ihr nicht gut geht, wird sie es dir sagen, dachte er. Er sagte ihr, dass sie um ein Uhr nach Feyzabad fahren würden, mit einer Patrouille. Sie legte ihren Finger an die Lippen und bat ihn herein. Klappte das Notebook auf. Winkte ihn heran.
    Sie tippte: Ich habe kein Kopftuch. Wir müssen eins kaufen, auf dem Bazar. Hast du das Geld dabei?
    Ja, sagte er.
    Er lächelte, aber sie erwiderte es nicht.
    Was ist los?, fragte er.
    Sie schüttelte den Kopf.
    Wir müssen zuerst das Kopftuch kaufen, tippte sie. Dann fahren wir zur Mädchenschule. Aber ab da müssen wir allein weiter. Kannst du das einrichten?
    Martens drehte das Notebook zu sich.
    Ich werde es versuchen. Wo treffen wir Chargul?
    Er holt uns ab, schrieb sie . Vor einem Teehaus in der Nähe der Mädchenschule. Verzeih mir.
    Was soll ich dir verzeihen?, sagte er.
    Sie klappte das Notebook zu und steckte es in ihre Reisetasche. Der Reißverschluss klemmte, sie zerrte am Bügel, ihre Lippen waren blau.
    Lass mich dir helfen, sagte er.
    Sie schüttelte heftig den Kopf und ging zur Tür. Einen Moment blieb sie unter der Tür stehen, dann rannte sie nach draußen. Er hörte, wie sie sich vor der Baracke erbrach. Er wäre ihr gern beigestanden, aber sie wollte bestimmt nicht, dass er sie jetzt sah, es hätte sie beschämt. Also blieb er im Zimmer.
    Ihre Tasche lag halb offen vor ihm auf dem Bett. Er konnte das Notebook sehen und ein paar Kleider. Er blickte sich im Zimmer nach ihrer Kamera um, nach der Minolta. Sie hatte sie aber offenbar schon in die Tasche gepackt.
    Verzeih mir.
    Kein einziges Mal, seit sie im Camp waren, hatte er Miriam fotografieren gesehen. Das fand er ungewöhnlich, auch für eine Fotografin, die wie sie lange nicht mehr in ihrem Beruf gearbeitet hatte. Fotografen waren immer neugierig auf Motive, auch wenn es nicht direkt mit ihrer Arbeit zusammenhing, sie knipsten dauernd irgendetwas, aus privatem Vergnügen.
    Er steckte die Hand in Miriams Tasche. Es war ein Vergehen, aber er wollte nicht verzeihen, ohne zu wissen was. Er schob die Kleider beiseite, tastete darunter nach einer Kamera. Zuerst suchte er nur oberflächlich, dann gründlich. Da war keine Kamera.
    Koriander
    Zur vereinbarten Zeit fanden sie sich auf dem Wagenpark des Camps ein. Tremmel, der Patrouillenführer, eisblaue Augen und Pranken mit Ehering, begrüßte sie ohne übertriebene Freundlichkeit. Er stellte sie seinen Männern, es waren sechs, als Journalisten vor, die heute die Patrouille begleiten und darüber berichten würden. Martens sagte, er wolle über die Leiterin einer Mädchenschule in Feyzabad schreiben, nicht über die Patrouille. Wie auch immer, sagte Tremmel und breitete auf der Motorhaube des Eagle eine

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