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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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roher Gewalt hätte man diese Muskeln aufbrechen, ihnen die Entspannung aufzwingen müssen. Aber Martens war nicht befugt dazu, und was die Paschtunen betraf: Wer war in ihrem Fall befugt?
    Er ließ Miriams Schultern in Ruhe und massierte die Grübchen neben dem Steißbein und die Kuhle darüber, das war eine magische Stelle, ein Eintrittstor.
    Das ist sehr schön, sagte sie.
    Sie drehte sich zu ihm um, legte ihm die Hand auf die Wange.
    Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig, sagte sie, aber du hast etwas Großzügiges. Das gefällt mir sehr. Ich habe dich vorhin im Stich gelassen, und du nimmst es mir nicht übel.
    Du hast mich nicht im Stich gelassen, sagte er, du hattest nur Angst. Es gibt eine Angst, die einen Dinge tun lässt, für die man sich hinterher schämt. Ich kenne das. Niemand, der diese Angst kennt, wird sie dem anderen vorwerfen.
    Ja, du kennst es, sagte sie. Das ist es ja. Du kennst es, und deswegen kannst du großzügig sein. Du verstehst es. Aber nicht nur das von vorhin. Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass du mich verstehst, schon am ersten Tag, als wir uns kennenlernten, auf dem Bürgeramt. Gestern Nacht konnte ich nicht schlafen, ich lag lange wach und habe dir mein Leben erzählt. In Gedanken. Ich möchte dir alles erzählen. Aber ich kann es nicht. Ich kann dir nicht alles erzählen. Und ich glaube, du weißt das.
    Hat es etwas mit der Kamera zu tun, die du nicht dabeihast?, fragte er.
    Du weißt es doch, sagte sie. Sie strich ihm mit der Hand durchs Haar. Du weißt es, du merkst, da stimmt etwas nicht, es läuft etwas nicht nach Plan. Aber du bist nicht wütend. Die meisten Menschen werden wütend, wenn sie merken, dass sie belogen wurden. Aber du nicht. Ich glaube, es gefällt dir sogar. Du magst es, wenn die Dinge aus dem Lot geraten. Wenn du nicht genau weißt, was als Nächstes passiert. Du findest es langweilig, am Sonntag mit deiner Frau und deinem Kind …
    … spazieren zu gehen, sagte er. Er lächelte.
    Für Sonntage bist du nicht der richtige Mann, sagte sie. An Sonntagen möchte man mit jemandem zusammen sein, der die kleinen Dinge schätzt. Auf einer Parkbank in der Sonne sitzen und den Kindern beim Spielen zuschauen. In einem Ausflugsrestaurant einen Kaffee trinken und die Preise auf der Kuchenkarte vergleichen. Sich gemeinsam auf den Abend freuen. Vielleicht kommen Freunde vorbei, man kocht, trinkt Wein, unterhält sich über die neue CD von Fiona Apple oder den neuen Film von Woody Allen. Und der nächste Sonntag wird ähnlich sein. Man freut sich darüber, dass nichts Besonderes geschieht. Mit dir kann ich mir das nicht recht vorstellen, sagte sie, ich glaube, du würdest mit den Fingern auf dem Tisch trommeln und irgendwann vorschlagen, dass wir sonntags Bungeejumpen gehen. In Berlin würde mich das stören. Aber hier bin ich unglaublich froh, dass du so bist.
    Ich würde nie Bungeejumpen, sagte er.
    Nein, aber du fährst nach Afghanistan. Mit einer Frau, die du nicht kennst. Sie sagt, dass sie Fotografin ist, aber sie hat keine Kamera dabei. Trotzdem setzt du dich mit ihr auf die Ladefläche eines Wagens, und am Steuer sitzt ein Talib. Du hast keine Ahnung, wohin er dich bringt und was dich dort erwartet. Ein Mann für Sonntage wäre gar nicht erst eingestiegen. Und wenn, würde er jetzt versuchen abzuspringen. Du aber nicht. Du genießt das, was hier passiert. Und dafür bin ich dir dankbar. Ich werde es dir nie vergessen, auch nicht, wenn wir wieder in Berlin sind und du nicht mit mir und Sinan spazieren gehen möchtest.
    Sie küsste ihn, wollte noch etwas sagen, aber er legte ihr die Finger auf die Lippen. Vor einigen Wochen hatte er eine Wissenschaftssendung gesehen, in der das Ende der Erde in zwei Milliarden Jahren gezeigt worden war: die kleine, rot glühende Erde war von den Gravitationskräften der zu einem riesigen Gasball aufgedunsenen sterbenden Sonne zerrissen worden. Alles, was je auf der Erde geschehen war, jedes Lachen, jeder Kuss, jeder Schmerz, hatte keinen Ort mehr gehabt, denn die Erde war vollständig verschwunden, zerrieben zu Staub, der durchs Weltall trieb. Angesichts des vollständigen Verschwindens der Erde, dessen Zeitpunkt die Astronomen berechnen konnten, schien alle menschliche Anstrengung vergeblich zu sein. Nur die Liebe nicht. Daran dachte Martens jetzt, als er hier mit Miriam saß und mit den Händen über ihre Haut strich. Der Gedanke an das Ende der Welt war nur erträglich, wenn man liebte, wenn man sich sagen konnte: Ich habe

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