Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
Einheimischer, jung, schmächtig. Mit einer herrischen Geste wies er Miriam an zu schweigen, er zeigte mit dem Finger auf den Boden, bleib hier stehen und rühr dich nicht!
Den Männern, die Martens festhielten, rief er von Weitem etwas zu, nur ein paar wenige Worte, ein Befehl, den die Männer befolgten. Sie ließen Martens los, ihnen wurde unbehaglich. Der Fock Amrika leckte sich über die Lippen, und als er sein Messer wegsteckte, taten es die anderen auch. Sie richteten ihre Blicke auf den jungen Mann, der sich ihnen ohne Eile näherte. Er trug eine helle Pluderhose, ein langes Gilet und eine Pakol. Die Augen waren mit Kajal umrandet, ein geschminkter hübscher junger Bursche. Sie hätten ihn mit Leichtigkeit überwältigen können, sie waren zu viert, und er war nicht einmal bewaffnet.
Der junge Bursche nahm sie sich einen nach dem anderen vor. Jedem blickte er in die Augen, dich merken wir uns, und dich auch. Darum ging es: Der Bursche mochte allein hier sein, aber die Männer fürchteten sich vor ihm, weil sie die Gruppe fürchteten, zu der er gehörte und als deren Abgesandter er hier vor ihnen stand. Besonders den Alten machte der Bursche verantwortlich. Er wies ihn zurecht, und der Alte rechtfertigte sich lange, redete viel, und plötzlich verpasste er dem Fock Amrika eine Ohrfeige und noch eine. Er hätte ihn auch getötet, wenn der Bursche es verlangt hätte, das war jedem hier klar.
Kein Mann für Sonntage
Sie stiegen auf die Ladefläche eines Toyota-Pick-ups. Der Bursche wollte, dass sie sich hinlegten, und sie taten es. Die Ladefläche war staubig, klebrig, leer bis auf einen Reifen ohne Felge und einen Leinensack mit Blutflecken. Der Bursche zog die Plane über das Gestänge, und nun lagen sie im Halbdunkel und in der Hitze, die sich unter der Plane staute. Als der Wagen losfuhr, setzten sie sich an die Rückseite der Fahrerkabine, es war der bequemste Platz bei unruhiger Fahrt.
Ist das Chargul?, fragte Martens.
Ja, sagte Miriam.
Ein Glück, dass er in der Nähe war, sagte Martens. Und dass du ihn angerufen hast. Du hast ihn doch angerufen?
Ja. Aber ich wusste nicht, ob er kommt. Er war misstrauisch, er dachte, dass es vielleicht ein Trick ist. Und dann hatten sie plötzlich Messer in der Hand. Und ich …
Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. Sie weinte, er spürte ihren Atem in seiner Halsbeuge. Er strich ihr über den Rücken und er sagte, du hast alles richtig gemacht.
Nein, ich bin weggerannt, sagte sie.
Aber nur um Chargul zu holen. Du hast mir das Leben gerettet.
Nein, nicht nur um Chargul zu holen, sagte sie. Ich hatte solche Angst. Ich konnte nicht mehr denken vor Angst.
Sie drückte ihm die Nägel in den Arm. Ihr Körper fühlte sich steinhart an.
Komm, setz dich mit dem Rücken zu mir, sagte er, lehn dich an mich.
Sie tat es.
Er streifte ihr den Tschador ab und massierte mit den Daumenspitzen ihren Nacken, versuchte, die Muskeln zu lockern, die einen Buckel machten wie verängstigte Katzen. Durch steten, sanften Druck versuchte er die Muskeln davon zu überzeugen, dass da jemand war, der sich um sie kümmerte, dass sie loslassen konnten. Anfangs misstrauten sie ihm und verhärteten sich noch stärker. Aber mit der Zeit wurden sie zutraulicher, und er spürte, wie sie sich unter seinen Händen entspannten. Er wurde selbst ruhig dabei, und die Ruhe gab er weiter, und umso mehr entspannten sich die Muskeln und umso mehr er, es war ein Engelskreis. Miriams Nacken war jetzt zugänglich und bereit, sich ganz zu lösen. Aber zwischen ihren Schultern stieß er auf hartnäckigere Verhärtungen, die nichts mit dem Vorfall von vorhin zu tun hatten. Es waren alteingesessene Verkrampfungen, die ihm vorkamen wie Gebirgsbewohner, die in einsamen, schattigen Tälern hausen. Wie die Paschtunen, dachte er, die seit Jahrhunderten nach Gesetzen und Regeln lebten, die einer Verkrampfung entsprangen, einem unentspannten Verhältnis der Männer untereinander und der Männer zu den Frauen. Die Verkrampfung saß so tief, dass sie zum eigentlichen Wesen der Paschtunen geworden war, sie identifizierten sich mit ihr und sahen in jeder Veränderung eine Bedrohung ihrer Identität. Diesen verhärteten Muskeln zwischen Miriams Schultern ging es nicht gut, das erkannte jeder, der es von außen betrachtete. Aber sie widersetzten sich Martens’ Versuchen, sie durch sanften Druck aus ihrer Starre zu lösen. Sie wollten starr bleiben, sie fürchteten die Entspannung, denn sie wäre schmerzhaft gewesen. Mit
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