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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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man ihnen in ihrem Dorf entgegenbringen würde, wenn sie in der winterlichen Kampfpause zurückkehrten mit mehr Geld in der Tasche, als hier irgendjemand sonst besaß.
    Martens blickte hinüber zu dem, der vor der Tür lag, mit an den Körper gezogenen Beinen, das Gewehr neben sich wie eine Gefährtin. Für diesen jungen Burschen spielte hier die Musik. Er war der Feldarbeit entronnen, dem mühseligen und eintönigen Anbau von Melonen, Reis oder Safran, dem Jäten von Unkraut, dem Ziehen der Ackerfurchen, dem Trott der Esel, dem matten Bellen der Hunde in der Abenddämmerung. In den ersten Strahlen der Sonne auf dem Feld stehen zu müssen, nichts Ehrenvolles zu tun, nur die Pflicht zu erfüllen, zu hacken, zu jäten, auf dem Esel den Großvater herantrotten zu sehen, der immer alles besser weiß, und der Händler bezahlt für eine Ladung Melonen diesmal weniger als letztes Mal, und wer kann wissen, ob er nächstes Mal nicht noch weniger bezahlt und eines Tages gar nichts mehr. Und dann bleiben deine Knochen zurück auf dem Feld, und was willst du deinen Enkeln erzählen? Aber dann, an einem Tag, der zu werden droht wie alle anderen, siehst du Staubwolken und weiße Wagen, auf denen Männer sitzen. Und du stehst auf dem Feld mit deiner Hacke, und dein Großvater schläft unter dem Baum, sein Esel lässt den Kopf hängen. Die Luft steht still, der Staub steigt träge empor unter den Schuhen der Männer, die munter mit ihren Gewehren auf den Schultern übers Feld zu dir kommen. Ihre Gesichter glänzen, so lebendige Gesichter hast du schon lange nicht mehr gesehen, Gesichter wie bei einer Hochzeit, die Männer scheinen zu tanzen, und sie sagen: Gib die Hacke deinem jüngeren Bruder, es ist Sommer und wir ziehen in den Kampf. Komm mit uns, in zwei Jahren, so Gott will, sind wir in Kabul!
    Entführung
    Die Glut wurde schwächer, die Dunkelheit zog sich um sie zusammen.
    Wenn du jetzt nicht gehst, dachte Martens, ist es zu spät.
    Beim Aufstehen musste er Rücksicht nehmen auf sich selbst, seine Knochen waren kalt, die Gelenke murrten. Er humpelte am Türschläfer vorbei, konnte gerade noch genügend sehen, um nicht versehentlich über dessen Beine zu stolpern.
    Im anderen Zimmer war es etwas heller, das Mondlicht schien durch die zwei Fenster, aber da sie unverglast waren, drang mit dem Licht auch die kalte Luft herein. Miriam lag auf dem Boden, das Mondlicht bedeckte sie, es war ein Anblick, der ihn rührte. Er setzte sich neben sie.
    Miriam?, flüsterte er.
    Sie schlief noch nicht, sie flüsterte, schlafen sie?
    Er nahm sie in den Arm. Gemeinsam schlotterten sie in der Kälte. Martens zog seine Wetterjacke aus und wollte sie Miriam um die Schultern legen. Sie lehnte ab, er sagte, zehn Minuten du, zehn Minuten ich. Sie bliesen sich gegenseitig in die Hände.
    Ich friere nicht an den Beinen, sagte sie leise. Weißt du, warum?
    Nein.
    Weil da das Geld drin ist. In meinen Hosentaschen. Geld hält richtig schön warm.
    Ihre Hose mit den Beintaschen. Er sagte, ich fand diese Hosen immer ein bisschen übertrieben. Wer braucht schon so viele Taschen? Du bist die Erste, die diese Hose wirklich braucht.
    Er versuchte zu lachen.
    Die ganzen siebzigtausend haben darin Platz, sagte sie.
    Wie haben sie eigentlich Kontakt zu dir aufgenommen?, fragte er. Wie hast du erfahren, dass Evren entführt worden ist?
    Evren hat mich angerufen, auf meinem Handy, sagte sie. An einem Samstag, drei Tage nach seinem Abflug.
    Miriam erzählte: Es war ein milder, regnerischer Tag. Sinan hatte sich zum Mittagessen Leberkäse gewünscht, es war, als kehre er ins Leben zurück. Seit dem Tod seines Großvaters hatte er kaum etwas gegessen, nur Süßigkeiten, selbst Leberkäse, seine Lieblingsspeise, hatte ihm nicht mehr geschmeckt. Miriam war glücklich über seinen Wunsch und über die kleine Sonne, die Sinan in die Ecke des Papiers gezeichnet hatte, auch das war ein gutes Zeichen. Während sie den in dicke Streifen geschnittenen Leberkäse briet, so wie er es mochte, zeigte Sinan ihr seine Zeichnung: ein schwarzer Elefant und darüber die kleine Sonne. Der Elefant war tot, aber die Sonne lachte. Sinan hatte in den vergangenen Tagen fast nur schwarze Tiere gezeichnet, und ihr zu jedem erzählt, warum es tot war. Eins war von einem Auto überfahren worden, das andere hatte Gift gegessen. Aber heute malte er diese fröhliche Sonne, der Tod wurde schon leichter. Und nachmittags wollten sie sich im Kino einen lustigen Film anschauen, Miriam freute sich

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