Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
kämmte, ging erst recht keine Gefahr aus, er war mit dem Leben zufrieden. Er hatte die Waffe gewählt, um der eintönigen Feldarbeit zu entkommen und etwas von der Welt zu sehen, und nun saß er mit einem Kafir, der von weit her kam, in einem Raum und konnte sich nicht sattsehen an dessen Goldhaar und diesem Bauch, der sich selbst unter der Wetterjacke noch deutlich hervorwölbte. Selten nur hatte dieser Talib einen Mann gesehen, der mehr als die bloße Haut auf seinen Rippen getragen hatte. Wie konnte Gott es zulassen, dass die Kuffar so fett wurden, während er oft genug vor leeren Schüsseln saß, bevor er satt war?
Miriam brachte aus dem anderen Zimmer Holz. Sie legte es vor Chargul hin. Er schickte sie, noch mehr zu holen. Sie tat es. Sie sagte, er will, dass ich Tee koche. Ich weiß aber nicht, wie man das macht. Dahinten im anderen Zimmer liegt ein Beutel mit Blättern, legt man die einfach in die Teekanne?
Die Männer waren mit dem Tee zufrieden. Sie tranken schnell hintereinander mehrere Gläser. Chargul saß mit angewinkeltem Knie da und redete auf die zwei anderen ein. Dem einen fielen die Augen zu, der andere zupfte sich den Bart und nickte geistesabwesend.
Miriam hatte sich etwas abseits neben die Tür gesetzt und trank.
Wie ist er?, fragte sie.
Süß, sagte Martens.
Ich hab allen Zucker reingeschüttet, der da war, sagte sie.
Zu essen gab es nichts.
Chargul spreizte über zwei leeren Teegläsern die Finger. Miriam füllte die Gläser erneut, und der, der mit seinem Leben zufrieden war, stand auf. Er hängte sich die Kalaschnikow über die Schulter, hob die beiden Gläser auf und ging aus dem Zimmer.
Er bringt Evren Tee, sagte Miriam. Evren ist hier, im anderen Gebäude.
Rechnen
Als vom Feuer nur noch die Glut übrig war, schickte Chargul Miriam in den Nebenraum, dort sollte sie schlafen. Es gab nur drei Decken, Miriam und Martens bekamen keine. Der mit dem Leben Zufriedene wickelte die Decke um sich und legte sich vor der Tür hin, um sie im Schlaf zu bewachen. Chargul und der andere legten sich in die Mitte des Raums, sie wollten der Kälte der Mauern entgehen. Eng lagen sie nebeneinander, die Decken über sich. Sie betteten ihre Köpfe auf die Arme, spendeten sich gegenseitig Wärme und schliefen sofort ein. Die im Alkoven verstauten Schlafmatten zu benutzen war offenbar das Privileg von Dilawar, und dass die Männer es nicht einmal in seiner Abwesenheit wagten, sich die Matten auszuleihen, zeigte, dass sie ihn fürchteten. Aber bestimmt bezahlte er sie gut. Eine ärmliche Behausung in den Bergen, ein eiskalter Boden, ein Feuer, das nichts taugte – was man nicht sah, war, dass sich hier alles ums Geld drehte. Ein Talib verdiente im Monat bis zu zweihundert Dollar, doppelt so viel wie ein Lehrer in Kabul. Und wenn ein Kommandant wie Dilawar sich nicht an die Layha hielt, kam durch gelegentliche Entführungen noch eine hübsche Summe dazu. Von den achtzigtausend Dollar, die Dilawar von Miriam erpresste, würde jeder dieser Männer hier einen Happen abbekommen.
Martens konnte nicht schlafen, ihm klapperten die Zähne, und sein Magen rumpelte vor Hunger, er hatte seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen. Er rechnete es im Kopf durch: Dilawars Truppe bestand schätzungsweise aus zwanzig Männern. Mehr Kämpfer konnte ein lokaler Kommandant wie er nicht ausrüsten. – Und er war ein lokaler Führer, seine Bekanntheit basierte nicht auf tatsächlicher Macht. Sie war virtuell und beruhte einzig auf den Videos, die Dilawar vor zwei oder drei Jahren ins Internet gestellt hatte, Videos, auf denen er vor den Leichen afghanischer Frauen posierte, die er als Ehebrecherinnen hatte steinigen lassen. Er hatte angebliche Spione hängen lassen, die beiden englischen Journalisten Evans und Murray eigenhändig geköpft und sich auf den Videos namentlich zu diesen Taten bekannt. Seine Prahlsucht hatte ihn berühmt gemacht, aber sein großer Name war eine Luftblase, er war ein bekannter, aber kein einflussreicher Kommandant, militärisch nur der Anführer einer unbedeutenden Horde.
Zwanzig Männer, dachte Martens, höchstens dreißig.
Wenn er jedem seiner Männer aus dem Lösegeld fünfhundert Dollar ausbezahlte, kostete ihn das nur fünfzehntausend, ihm selbst blieb der ganze Rest. Für seine Männer aber waren fünfhundert Dollar ein kleines Vermögen, sie lobten den Tag, an dem sie Dilawar begegnet waren, sie dankten Gott dafür, dass er ihnen Dilawar geschickt hatte, sie dachten an den Respekt, den
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