Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
sie.
Ich weiß nicht. Was hat Chargul denn gesagt? Ist das hier der Treffpunkt? Soll hier die Geldübergabe stattfinden?
Er sagte nur, dass er uns zu Dilawar bringt, sagte sie. Ich habe solche Angst, dass ich … ich habe ganz kalte Arme, aber ich friere nicht. Kennst du das, hast du das auch schon mal gehabt?
Ja, sagte Martens.
Du musst nicht lügen, sagte sie.
Es waren bei mir nicht die Arme, es waren die Beine. Ich spürte meine Beine nicht mehr. Komm, wir gehen ein paar Schritte, sagte er. Bewegung ist gut gegen Angst.
Nein, sagte sie. Ich möchte sitzen. Für dich ist es vielleicht gut, wenn du dich bewegst, aber für mich nicht. Ich möchte jetzt einfach nur ruhig dasitzen. Was meinst du, warum ist Dilawar nicht hier?
Er ist unterwegs, sagte Martens. Das hier ist ihr Stützpunkt, und ab und zu steigen sie ins Tal runter, um einen Konvoi anzugreifen oder eine Polizeistation. Chargul wird ihm gesagt haben, dass er heute oder morgen hier mit uns eintreffen wird. Jetzt sind wir da, und wenn Dilawar übermorgen wieder hierherkommt, ist er nach paschtunischen Maßstäben überpünktlich.
Woher weißt du das?, fragte sie. Ich meine, dass Dilawar unterwegs ist, um eine Polizeistation anzugreifen?
Es ist sein Job, sagte Martens.
Aber vielleicht kommt Dilawar gar nicht, sagte sie. Vielleicht hat Chargul uns nur hierhergelockt, um uns auszurauben.
Du kannst Chargul trauen, sagte Martens. Sie will hören, dass alles in Ordnung ist, dachte er, sie braucht jetzt einen Abenteurer, der sich in allem auskennt. Er sagte, wenn Chargul vorhätte, uns auszurauben, hätte er das gestern Abend schon getan. Er hätte sich nicht die Mühe gemacht, uns den ganzen Weg hier hinaufzubringen. Die beiden Männer sind Wachen. Dilawar hat sie hier zurückgelassen, um auf das Haus aufzupassen, möglicherweise auch auf deinen früheren Mann.
Er heißt Evren, sagte sie.
Ja, auf Evren, sagte Martens, er musste einen Widerstand überwinden, um den Namen auszusprechen. Dilawar wird bestimmt kommen, sagte er, vielleicht ist er auch schon hier. Er versteckt sich irgendwo und beobachtet die Lage. Klingt gut, dachte Martens. Er weiß, sagte er, dass Chargul uns von Feyzabad hierhergebracht hat, er will sichergehen, dass uns niemand gefolgt ist. Er kann ja nicht wissen, ob du nicht die ISAF über das Treffen mit ihm informiert hast und seine Feinde zu seinem Versteck führst. Es kann also sein, dass er erst mal die Gegend erkundet und abwartet. Wenn er sicher ist, dass wir allein sind, taucht er auf.
Und dann?, fragte Miriam.
Dann gibst du ihm das Geld, und er gibt dir Evren, sagte Martens. Und dann fahren wir nach Hause.
Chargul und die beiden Wachen stiegen zu ihnen hinauf, ohne Eile, denn der Tag war noch lang, und sie hatten nichts zu tun. Die Wachen rauchten, Chargul hatte sie mit einzelnen Zigaretten abgespeist und wohl irgendeinen Kompromiss mit ihnen ausgehandelt.
Wir fahren nach Hause, sagte Miriam, das klingt gut.
Ja, sagte er und dachte, sie halten sich nicht an die Layha. Das machte ihm Sorgen.
Layha
Vor seiner Abreise nach Afghanistan hatte Martens sich über die neuste Layha informiert. Die Layha war eine Sammlung von Verhaltensregeln im Kampf, ein Kodex, in dem der Imam, der oberste Führer der Taliban, unter anderem festlegte, wie mit Gefangenen umzugehen war, wer über Spione Todesurteile verhängen durfte und an welche Regeln sich Selbstmordattentäter zu halten hatten. Es war ein jus in bello, bindend für alle untergeordneten Kommandanten. Die neuste Layha widerspiegelte den Wunsch des Imams nach einem besseren Image in den Medien. Der Imam verbot seinen Kämpfern, die Hinrichtungen von Ehebrecherinnen und Spionen aufzuzeichnen und die Videos ins Internet zu stellen, wie das in der Vergangenheit gern gemacht worden war. Er verbot unter Verweis auf den Koran die Zerstörung von Schulen und die Ermordung von Lehrern sowie die Folterung von Gefangenen – besonders das hatte Martens, als er sich in seiner schäbigen Berliner Wohnung bei einem Glas Weißwein mit dem Regelwerk vertraut gemacht hatte, dem Imam nähergebracht. Die Layha verbot den Taliban ferner das Rauchen, da es unislamisch sei, und die Geiselnahme zur Erzwingung eines Lösegelds.
Diese Anweisungen waren seit zwei Jahren in Kraft. Jeder Talibankommandant von Gewicht, also auch Dilawar Barozai, hatte das kleine grüne Büchlein in die Hand gedrückt bekommen. Barozai kannte die Direktiven.
Aber seine Männer rauchten.
Das hätte man sich damit
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