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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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schrie Evren. Ist das der Dank, sagte er, ich bringe deinen Vater hierher, ich mache mir die ganze Mühe und bringe deinen Vater hierher, und dann kannst du mir nicht mal eine Minute zuhören.
    Sinan, geh mit Anke, sagte Miriam. Geh!
    Zu Evren sagte sie, ich höre dir zu, Evren.
    Sinan weinte, und Anke sagte, meinst du nicht, dass es besser wäre, wenn du mit ihm gehst? Du kannst doch später telefonieren, so dringend kann es doch nicht sein, also wirklich.
    Miriam ging weg, einfach irgendwohin weg von allen. Die Tür zu einem der Kinosäle stand offen, sie ging hinein. Der Saal war leer bis auf zwei junge Männer, die mit Müllbeuteln durch die Sitzreihen gingen.
    Evren, sagte sie, bist du noch da? Er sagte, was machst du denn, er schluchzte, gib mir Sinan, ich will mit meinem Sohn sprechen. Bist du dumm, kapierst du es nicht! Die werden mich umbringen! Seine Stimme überschlug sich. Die töten mich, und du bist schuld, ich bin deinetwegen hier, ich hab dir einen Gefallen getan, ich blöder Idiot! Ich hätte wissen müssen, dass du mich hängen lässt, du hast nie zu mir gehalten, nie. Es musste immer nach deinem Kopf gehen, deine Ideen, deine Pläne, dich hat doch gar nie interessiert, was ich wollte. Und jetzt lässt du mich hier verrecken!, schrie er.
    Evren, sagte sie ruhig. Evren. Ich will mit Dilawar sprechen. Gib mir Dilawar.
    Sie hatte keine Kraft mehr in den Beinen, sie musste sich setzen. Einer der Männer, die den Müll einsammelten, fragte, in welchen Film wollen Sie denn, hier läuft erst wieder einer um sechs. Und dann fragte jemand auf Pashto, dein Vater, wie hieß er? Sag mir seinen Namen. Die Stimme klang sanft, schläfrig, gelangweilt.
    Er hieß Bazir Khalili, aus dem Dorf Isa Khel, sagte sie.
    Und wie hieß sein Vater?
    Sein Vater hieß Azlan Khalili. Und er war mein Großvater.
    Er war auch mein Großvater, sagte Dilawar.
    Schämst du dich nicht?, sagte Miriam. Du beschmutzt die Ehre unserer Familie. Du nimmst meinen Mann gefangen, deinen eigenen Schwager, der den Leichnam deines Vaters in sein Heimatdorf gebracht hat. Womit rechtfertigst du das? Nenn mir die Stelle im Paschtunwali oder im Koran, die dir das Recht gibt, so zu handeln!
    Miriam hielt den Atem an. Ihre eigenen Worte waren ihr fremd, und doch fühlte sie, dass es in dieser Situation die richtigen Worte waren. Sie war seine Schwester, sie waren verbunden durch das stärkste Band, das ein Paschtune kannte: die Familie. Und genau so würde eine mutige Schwester mit ihrem Bruder sprechen, wenn er ein Unrecht beging.
    Worauf berufst du dich?, fragte sie. Alles, was ihr Vater ihr über Afghanistan je erzählt hatte, über die Denkweise der Paschtunen, über die Stammesgesetze, über ihr Ehrempfinden, machte jetzt einen Sinn, und die Worte kamen ihr ganz selbstverständlich über die Lippen. Nenn mir ein Gesetz, sagte sie, dass dich berechtigt, deinen eigenen Schwager gefangen zu nehmen, dann werde ich alles tun, was du verlangst. Denn ich werde mich an die Gesetze halten, an die Gottes und an die der Paschtunen. Kannst du das von dir auch sagen, Dilawar Barozai?
    Er ist nicht mein Schwager, sagte Dilawar. Das weißt du doch. Du wolltest nicht mehr seine Frau sein. Dein Mann hat dir die Scheidung nicht erlaubt, er wollte, dass du seine Frau bleibst. Aber du bist zu einem Richter gegangen, und der Richter hat dir recht gegeben. Was sind das für Gesetze, die einer Frau erlauben, ihren Mann gegen seinen Willen zu verlassen! Sind das etwa die Gesetze Gottes und der Paschtunen, an die du dich angeblich hältst? Also erzähl mir nichts von Gesetzen, in deinem Mund werden sie zu Schmutz. Sag mir lieber, was du tun wirst für einen Mann, den du nicht mehr wolltest. Wie viel ist dir sein Leben noch wert? Ich sage es dir: Es ist dir nichts mehr wert. Und das weiß er, deshalb heult er vor Angst. Er kriecht auf Knien herum, kann er überhaupt aufrecht stehen? Ich glaube nicht, er kriecht immer nur und fleht mich an, ihn nicht zu töten. Dir vertraut er nicht, er sagt, dir ist sein Leben nichts wert. Aber ich rate dir: Denk an seinen Sohn. Willst du, dass sein Sohn seinen Vater verliert, überlege dir das. Dieser Mann mag dir nichts mehr wert sein, weil du herumziehst wie eine entlaufene Ziege, die jedem gehört, der sie nimmt. Aber was wirst du deinem Sohn sagen, wenn sein Vater tot ist, weil sein Leben dir nichts mehr wert war? Wie wirst du deinem Sohn das erklären?
    Der Sohn dieses Mannes, sagte Miriam, ist dein Neffe. Er heißt Sinan, und du bist

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