Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
darauf, Sinan wieder lachen zu hören.
Dann rief Evren an, und weil das Handy auf dem Küchentisch lag und Sinan schon wusste, wie man das macht, nahm er den Anruf entgegen. Papa, rief er, wir gehen ins Kino, und ich kriege eine Brille, damit ich alles dimsional sehe! Papa? Weinst du? Sinan streckte ihr das Handy hin und sagte, Papa weint, habt ihr euch wieder gestritten?
Das Radio lief, sie spielten Material Girl von Madonna, und Evren sagte, sie haben mich entführt, die Schweine haben mich entführt. Die Verbindung war schlecht, Evrens Stimme wurde verzerrt, manchmal weggeweht, Miriam sagte zu Sinan, zeichnest du mir noch was, einen Löwen, wie den aus dem Film, den wir uns nachher anschauen, einen braunen Löwen? Sie ging ins Wohnzimmer, schloss die Tür, Evrens wütendes Schluchzen – noch nie, seit sie sich kannten, hatte er geweint. Hör zu, sagte er, hör jetzt gut zu!
Evren sagte, dass sie zweihunderttausend Dollar wollen, in zwei Wochen, du musst das Geld besorgen, irgendwie, ich bitte dich, lass mich jetzt nicht allein, Herzchen, sagte er, er benutzte diesen Kosenamen aus den glücklichen Zeiten ihrer Ehe. Du musst mich hier rausholen, sagte er, ich bitte dich, und dann begann er zu drohen: Wenn du mich hier hängen lässt, wird Sinan dir das nie verzeihen! Ich bin sein Vater, hörst du, er braucht seinen Vater, du musst …
Die Verbindung brach ab, und Miriam war froh darüber. Nicht mehr Evrens Stimme hören, nicht mehr hören, was geschehen war, das Handy widerte sie an, sie warf es aufs Sofa und ging auf den Balkon, sie wollte rauchen, aber sie hatte keine Zigarette, sie hatte ja aufgehört damit. Im Badezimmer sah sie ihr Gesicht im Spiegel, sie wollte es wegwaschen, füllte die Hände mit kaltem Wasser und tauchte das Gesicht hinein, übergab sich in kurzen, heftigen Stößen. Sinan fragte: Ist dir schlecht, Mama? Geh in die Küche!, schrie sie ihn an, er begann vor Schreck zu weinen. Sie umarmte ihn, entschuldigte sich, küsste sein Gesicht. Sie wollte, dass dieser Tag so weiterging, wie er begonnen hatte, mit der kleinen Sonne, dem Duft von gebratenem Leberkäse, dem Kinobesuch, wir essen jetzt den leckeren Leberkäse, sagte sie, und dann schauen wir uns den Film an und du kriegst Popcorn. Und die Brille auch?, fragte Sinan, und sie sagte, die größte Brille, die sie haben.
Sinan spießte einen Streifen Leberkäse auf die Gabel und biss Stücke davon ab. Miriam aß mit, ohne etwas zu schmecken. Sie füllte ein großes Glas mit Weißwein, trank es in drei Zügen leer, füllte es erneut. Sinan erzählte etwas aus dem Kindergarten, und sie dachte voller Zorn an Evren. Du musst, du sollst, du wirst, seine herrische, misstrauische Art. Es war typisch für ihn, dass er ihr, noch bevor sie überhaupt zu Wort gekommen war, unterstellte, dass sie ihn im Stich lassen würde. Hör zu, hör jetzt gut zu! – diesen Tonfall kannte sie zu gut, sie konnte ihn ihm auch in dieser Situation nicht verzeihen. Einen Moment lang empfand sie Schadenfreude bei der Vorstellung, dass seine Drohungen jetzt keine Wirkung mehr hatten, dass er vollkommen von ihr abhängig war und sie es in der Hand gehabt hätte, ihn dazu zu zwingen, in einem anderen, respektvolleren Ton mit ihr zu sprechen.
Sie brauchte Zeit, sie musste zur Ruhe kommen, nachdenken. Sie setzte Sinan vor den Fernseher, er war ganz erstaunt, ich darf fernsehen, jetzt? Es ist doch noch gar nicht Abend. Ausnahmsweise, sagte Miriam und schloss sich im Schlafzimmer ein. Sie rief Evrens Nummer an, aber er meldete sich nicht, es kam nur die Mailbox.
Sie setzte sich aufs Bett und starrte eine Weile den Staubsauger an, der in der Ecke neben dem Kleiderschrank stand. Sie musste neue Staubsaugerbeutel kaufen, aber sie wusste nicht, welche, sie hatte auf dem vollen Beutel keine Markenbezeichnung gefunden, keine Produktnummer, nichts. Sie hatte sich gestern darüber geärgert, dass Staubsaugerbeutel nicht normiert sind, woher soll man wissen, wo man Beutel für gerade dieses Staubsaugermodell kriegt? Auch jetzt ärgerte sie sich wieder darüber. Sie trank das Glas Wein leer, das sie ins Schlafzimmer mitgenommen hatte. Sie trank um diese Zeit nie Wein, und es missfiel ihr, dass sie sich aus der Bahn werfen ließ. Evren war entführt worden, gerade deswegen musste jetzt alles so weitergehen wie immer. Sinan durfte nichts davon erfahren, danach musste sich alles richten. Zuerst der Tod seines Großvaters, und jetzt wurde sein Vater entführt, das war grotesk, unter
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