Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
allen Umständen wollte Miriam Sinan davor schützen.
Sie rief Dorle an, erzählte ihr alles, leise, damit Sinan im Wohnzimmer nichts hörte. Mein Gott, sagte Dorle, hast du die Polizei schon angerufen? Es tat Miriam gut, mit jemandem zu sprechen, der die Lage völlig falsch einschätzte. Miriam erklärte Dorle, dass Entführungen in Afghanistan an der Tagesordnung seien, und das Wort Tagesordnung klang beruhigend, es klang nach Normalität und festen Regeln, deren Befolgung zu einem guten Ende führte. Aber so viel Geld, sagte Dorle, wie willst du das denn auftreiben, du hast doch nichts. Aber das schaffen wir schon, sagte Dorle, ich habe achtzehntausend, und ich kann meine Mutter bitten, mir etwas zu leihen, zwanzigtausend, das sind dann schon fast vierzigtausend, und du hast ja auch noch etwas geerbt von deinem Vater, sagtest du nicht mal, es seien zwanzigtausend? Dorle kam ins Rechnen, sie hatte früher als Versicherungsvertreterin gearbeitet, sie empfand Zahlen als etwas Verlässliches, als einen Grünstreifen im Chaos. Miriam sagte, ich muss sie herunterhandeln, ihnen klarmachen, dass Evren nicht so viel Geld hat. Sie werden mich anrufen, heute oder morgen, mit seinem Handy. Dorle sagte, du wirkst so ruhig, das verstehe ich gar nicht, er ist immerhin Sinans Vater, und Miriam sagte, sie werden ihm nichts tun, solange sie sicher sind, dass ich alles unternehmen werde, um das Lösegeld zu beschaffen.
Um 15.00 Uhr fuhr Miriam mit Sinan ins Kino. Als sie wegen Popcorn anstanden, trafen sie Anke und Max. Max war Sinans bester Freund im Kindergarten, und die beiden setzten die 3-D-Brillen auf, die sie bekommen hatten, und rannten zum Filmplakat, kehrten aber enttäuscht zurück: das sei gar nicht lebendig. Anke, deren Stimme in den höheren Lagen manchmal ins Schrille kippte, erklärte Sinan – so als habe nur er es nicht begriffen –, dass Fotos nicht dreidimensional sein können. Sinan sagte, Filme sind aber auch Fotos, ganz viele ganz schnell, und Anke lächelte gezwungen.
In der ersten Zeit ihrer Bekanntschaft, die sich durch die Freundschaft ihrer Kinder ergeben hatte, hatte Anke Miriam gegenüber mehrmals ihren Bruder erwähnt, einen Werbegrafiker, der in Neukölln wohnte und sich dort sehr wohlfühlte. Anke hatte Miriam auf diese Weise zu verstehen geben wollen, dass sie keine übermäßigen Vorbehalte gegen Türken hatte. Miriam hatte die wahre Ahnengalerie, afghanischer Vater, jüdische Mutter, türkischer Ehemann, nie enthüllt, es gab keinen Grund, etwas richtigzustellen.
Max bewarf ein Mädchen, das an der Hand seines Vaters vor der Süßigkeitentheke stand, mit Popcorn, der Vater sagte zu Max, das ist zum Essen da, nicht zum Rumwerfen, und Anke rief, Max, das lässt du jetzt aber sofort sein! Miriams Handy klingelte, es war Evren. Max gehorchte nicht, er wollte das Mädchen mit Popcorn treffen. Sinan stand daneben und rang mit sich selbst. Der Vater des Mädchens wurde lauter, Anke sagte, so schlimm ist das doch nun auch wieder nicht, und Evren sagte, leg nicht auf, Miriam, leg bloß nicht auf, ich weiß nicht, wann ich noch mal telefonieren darf. Hör mir zu! Hör mir ganz genau zu! Das sind die Leute, die früher hier regiert haben, verstehst du? Ich kann den Namen nicht nennen, sie würden es verstehen. Und ihr Anführer, das ist dein Bruder. Es gibt hier einen, der Englisch spricht. Er hat es mir gesagt. Miriam sagte, behandeln sie dich gut, hast du eine Ahnung, wo du bist? Evren sagte, jaja, bis jetzt noch. Aber wenn du das Geld nicht besorgst, machen die ernst, glaub mir doch endlich. Die wollen das Geld, dann lassen die mich frei. Und jetzt hör mir zu, hör mir verdammt noch mal endlich zu: Sie wollen, dass du das Geld bringst.
Mama, sagte Sinan, ich muss auf Toilette.
Ich komme gleich, mein Schatz, sagte Miriam.
Aber ich muss, bevor der Film anfängt. Und der fängt jetzt an.
Anke, sagte Miriam, könntest du mit Sinan bitte zur Toilette, ich habe hier einen dringenden Anruf, ich wäre wirklich froh, wenn du mit ihm hingehen könntest.
Kein Problem, sagte Anke, wenn du telefonieren musst, das verstehe ich. Komm, Sinan, komm, ich bring dich zur Toilette, Mama muss telefonieren.
Aber ich will mir dir gehen, sagte Sinan.
Hast du verstanden?, sagte Evren. Hörst du mir überhaupt zu? Miriam! Gib mir Sinan! Sinan ist doch bei dir, ich höre seine Stimme, gib ihn mir sofort! Ich weiß schon, was du vorhast, du willst, dass er es nicht erfährt, damit du mich hier verrecken lassen kannst!,
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