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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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erklären können, dass sie es hinter seinem Rücken taten. Aber Martens glaubte das nicht. Wenn Barozai es ihnen unter Berufung auf die Layha verboten hätte, hätten sie es nicht gewagt zu rauchen, egal ob er da war oder zweihundert Kilometer weit weg. Sie rauchten, weil ihr Kommandant sich nicht an die Layha hielt. Der Imam verbot Geiselnahmen, aber Barozai hatte eine Geisel genommen, und nicht nur irgendeine: Er hatte den Mann entführt, der den Leichnam seines Vaters in sein Heimatdorf begleitet hatte. Von seiner eigenen Halbschwester verlangte er achtzigtausend Dollar dafür, dass er seinen Schwager am Leben ließ. Er verstieß aber nicht nur gegen die Layha, sondern auch – und das war noch beunruhigender – gegen das Paschtunwali, das Stammesgesetz der Paschtunen, das ihnen neben dem Koran das Heiligste war. Eine der Säulen des Paschtunwali war Melmastia, die Gastfreundschaft. Sie ging so weit, dass ein Paschtune verpflichtet war, einen Gast mit seinem eigenen Leben zu schützen, selbst dann, wenn es sich um einen Feind handelte, der bei ihm Zuflucht vor den Freunden des Gastherrn suchte. Als Evren Miriams Vater in dessen Heimatdorf Isa Khel brachte, stand er de jure unter dem Schutz von Miriams Familie, den Brüdern ihres Vaters und auch unter dem von Dilawar. Mit der Entführung hatte Dilawar Melmastia verletzt und die Ehre der Familie beschmutzt. Die Brüder von Miriams Vater mochten diesen für den Mord an ihrem Bruder hassen, aber mit Sicherheit hatte Dilawar ohne ihr Einverständnis gehandelt, als er Evren in Isa Khel als Geisel genommen hatte. Denn Melmastia war unantastbar und unverhandelbar, und zweifellos hätten die Brüder Dilawar getötet oder den Dorfältesten zur Aburteilung übergeben, wenn es ihnen möglich gewesen wäre. Dilawar war aber bestimmt nicht allein nach Isa Khel gekommen, sondern mit bewaffneten Männern. Er hatte sich mit seiner Tat gegen seine Familie gestellt, und das bedeutete, dass er ein Mann war, der alle Brücken abgebrochen hatte und der sich weder an die Gesetze seiner militärischen Führer noch an die seines Volkes hielt.
    Martens machte sich Vorwürfe, dass er darüber nicht früher nachgedacht hatte, als noch Zeit gewesen wäre, Miriam zu einem anderen Vorgehen zu überreden. Jetzt war es zu spät, jetzt saßen sie in der tückischen Gebirgssonne, in der erdrückenden Stille, und während gestern Abend, als sie mit Chargul allein gewesen waren, eine Flucht noch möglich gewesen wäre, ruhten jetzt die Augen von zwei bewaffneten bärtigen Jünglingen auf ihnen.
    Wir fahren nach Hause, hatte Miriam vorhin gesagt, sie hatte wieder Mut gefasst, während er seinen soeben verlor.
    Tee kochen
    Hinter den Bergwänden wurde die Sonne verbrannt, und der Widerschein des mythischen Feuers färbte den Himmel in allen Farben der Glut. Die Wildheit des Sonnenuntergangs entzündete Sterne. Sie flackerten in der Kälte.
    Im letzten Licht trieb Chargul sie durch die herausgebrochene Tür in den Innenhof des Hauses. Es gab zwei Gebäude, ein fensterloses, dessen Holztür verschlossen war, und jenes andere, das an einen Turm erinnerte, mit zwei kleinen, unverglasten Fenstern als Schießscharten. Chargul winkte sie in das Turmgebäude.
    Miriam und Martens setzten sich auf den blanken Boden. In einem Alkoven waren einige Schlafmatten und Kissen gestapelt, aber weder Chargul noch die zwei anderen benutzten sie. Auch sie setzten sich auf den Boden. Von dem Zimmer führte ein schmaler Korridor zu einem anderen. Chargul sagte etwas zu Miriam, und sie ging in das andere Zimmer.
    Die beiden Männer stellten ihre Gewehre in die Ecke. Sie zogen die Schuhe aus, es waren Turnschuhe. Der eine nahm die Pakol ab und kämmte sich, der andere schaute ihm zu und gähnte. Sie kamen Martens immer jünger vor. Bei der ersten Begegnung hatte er sie auf Anfang dreißig geschätzt, er hatte sich durch ihre wuchtigen Bärte täuschen lassen. Inzwischen hielt er sie für knapp zwanzig. Der eine war verkniffener als der andere, und manchmal verhärtete sich sein Blick, vor allem, wenn er Miriam ansah. Das mochte aber einfach daran liegen, dass sie sich anderes benahm, als er es von Frauen gewohnt war. Er spürte, dass ihre Zurückhaltung und Devotheit nicht echt war, sie musste ihm vorkommen wie einem Bayern ein japanischer Tourist in Lederhosen. Aber seine Augen, und darauf kam es an, waren ungetrübt von Hass, man konnte auf den Grund seiner Seele sehen, und es war eine unverwüstete Seele. Von dem, der sich

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