Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
sein Onkel. Du sprichst von deinem eigenen Neffen. Wenn du nicht willst, dass dein Neffe seinen Vater verliert, dann lass Evren frei.
Stell mir keine Bedingungen!, sagte Dilawar. Und jetzt hör gut hin! Hörst du das?
Ja, sie hörte es. Sie hörte, wie sie Evren schlugen. Gott ist groß!, schrie Evren, es gibt keinen Gott außer Gott! Er schrie es immer wieder, um die Schläge abzuwenden. Miriam legte das Handy auf den Nebensitz. Evrens Schreie wurden unwirklich, kleine Geräusche nur aus einem kleinen Lautsprecherchen, man konnte gar nicht mehr erkennen, dass es Schreie waren.
Der Mann mit dem Müllbeutel sagte, sprechen Sie Deutsch?
Miriam nickte.
Der Mann wies sie noch einmal darauf hin, dass der nächste Film erst um 18.00 Uhr begann. Er blickte auf das Handy, aus dem die Geräusche kamen.
Mein Mann ist entführt worden, sagte Miriam, sie musste es jemandem sagen, diesem Fremden mit dem schiefen, gutmütigen Gesicht, ein junger, korpulenter Mann, sie schlagen ihn, sagte sie, das ist ganz normal.
Ganz normal?, fragte der Mann.
Sie schlagen die Opfer, damit die Angehörigen schneller bezahlen, sagte sie.
Und Sie sitzen einfach da?, fragte der Mann.
Was soll ich denn sonst tun!, schrie Miriam.
Sie musste das Handy mit beiden Händen festhalten, so sehr zitterte sie. Auf Pashto schrie sie, hört auf, im Namen Gottes, ich flehe euch an! Dilawar! Ich will mit dir sprechen!
Nenn mir keine Bedingungen!, sagte Dilawar. Denk an deinen Sohn und schweig. Erzähle niemandem davon, sonst verliert er seinen Vater. Dein Mann braucht zweihunderttausend Dollar. Du wirst sie ihm bringen. Ich werde dir sagen, wohin du das Geld bringen musst. Du hast zwei Wochen Zeit.
Sie verhandelten.
Fünfzigtausend, sagte Miriam, mehr ist unmöglich.
Achtzigtausend, sagte Dilawar, weniger ist unmöglich. Und jetzt sag mir, warum er gestorben ist, dein und mein Vater.
Miriam kannte das Pashto-Wort für Infarkt nicht, sie sagte, sein Herz ist stehen geblieben.
Das ist ein guter Tod, sagte Dilawar. Und der Sohn deines Mannes, wie alt ist er?
Zucker
Der Mond stand nun im Fenster, umflirrt von Sternen, kalter Wind wehte hinein. Martens’ Zehen waren taub, er bewegte sie in den Schuhen. Er drückte Miriam an sich, aus Zuneigung und gegen die Kälte. Wenn sie sprach, wurden ihre Worte zu Nebeln, die aus ihrem Mund aufstiegen. Sie sagte, nach zwei Monaten hatte ich siebzigtausend zusammen. fünfunddreißig von Dorle und ihrer Mutter, zwanzig hatte mein Vater mir vererbt. Evren sagte, auf seinem Konto seien fünfzehntausend, aber es war schwierig, an das Geld heranzukommen, die Bank wollte es mir natürlich nicht ausbezahlen. Sie verlangten eine schriftliche Vollmacht von Evren, und bis die da war … du kannst dir ja vorstellen, wie lange das gedauert hat. Es waren dann aber gar nicht fünfzehntausend, Evren hatte sich geirrt, es waren nur zwölftausend. Mir fehlten also immer noch dreizehntausend. Und ich hatte nichts mehr. Ich überlegte mir, ob ich zum Auswärtigen Amt gehen soll, ich dachte, dass die mir das Geld vielleicht vorschießen. Aber es war zu gefährlich, die hätten vielleicht die afghanische Polizei informiert. Jedes Mal, wenn Dilawar mich anrief und unter Druck setzte, warnte er mich, zur Polizei zu gehen, er sagte, dass er Evren dann töten wird.
Es ist alles in Ordnung, sagte Martens. Du hast das Geld dringend gebraucht, und dann hast du mich kennengelernt. Das war ein wunderbarer Tag, an dem wir uns kennengelernt haben. Daran denke ich, nicht an die Geschichte mit der Bacha Posh.
Die Bacha Posh gibt es wirklich, sagte Miriam. Evren hat es zufällig herausgefunden. Dass Malalai kein Mann ist. Er hat sie damit erpresst. In seiner Situation hätte ich das vielleicht auch getan. Malalai hat ihm Zigaretten zugesteckt, und wenn er Hunger hatte, hat sie ihm heimlich Fladenbrot und Reis gebracht, manchmal auch Fleisch, was sie eben auftreiben konnte. Evren wusste immer, was Dilawar als Nächstes vorhatte, Malalai hat es ihm erzählt. Evren ist gut darin, andere dazu zu bringen, für ihn zu sorgen, und bei Malalai fiel es ihm natürlich leicht, er hatte sie in der Hand.
Wie haben sie sich denn unterhalten?, fragte Martens. In welcher Sprache?
Malalai kann ein bisschen Englisch, sagte Miriam. Sie hat Evren erzählt, ihr Vater habe eine Autowerkstatt in Feyzabad, er habe Geld, und er habe sie zur Schule geschickt, als Junge, als seinen Sohn.
Aber sie will nicht fliehen, sagte Martens.
Nein.
Ich habe Hunger, sagte
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