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Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)

Titel: Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linus Reichlin
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ins Feuer. Die anderen hatten von ihrem Streifzug mehrere Hähnchen mitgebracht, mit verdrehten Köpfen lagen sie auf dem Boden, die Krallen in die Höhe gereckt. Der junge Talib setzte sich hin, nahm eines in den Schoß und rupfte es.
    Martens war übel vor Hunger, es fühlte sich an, als würde sein Magen sich selbst verdauen. Martens wärmte sich am Feuer, er hatte Schmerzen in den Fingergelenken, der Gedanke an eine weitere eiskalte Nacht verdarb ihm die Vorfreude auf das gebratene Hähnchenfleisch – falls sie uns überhaupt etwas davon abgeben, dachte er. Es waren fünf Hähnchen von mittlerer Größe, Martens zählte die Männer zusammen: Dilawar war mit neun gekommen, dann Chargul, die beiden von gestern, die Martens heute noch nicht gesehen hatte, machte dreizehn. Mit Miriam, Evren und ihm waren es siebzehn. Fünf Hähnchen für siebzehn Leute. Wenigstens gab es genügend Feuerholz, sie hatten es an der Umfriedungsmauer aufgeschichtet, es reichte für ein Feuer, das die ganze Nacht brannte.
    Chargul sagte etwas zu dem jungen Talib, um den herum es Hühnerfedern schneite.
    Du sollst Steine holen, sagte der Talib zu Martens in holprigem Englisch. Wie die Steine letztes Mal.
    Sie ist es also, dachte Martens. Das musste Malalai sein, die Bacha Posh. Malalai kann ein bisschen Englisch, hatte Miriam gesagt. Sie versuchte, mit tiefer Stimme zu sprechen, aber ihr Gesicht, das Martens heute Mittag noch für das eines sehr jungen Burschen gehalten hatte, kam ihm jetzt unverkennbar mädchenhaft vor. Der milde Blick. Ihre schmalen Hände mit den langen, schlanken Fingern. Man ließ sich täuschen, solange man keinen Verdacht hegte und nicht nach Anzeichen suchte. Sobald man es aber wusste, wie er jetzt, sah man ganz deutlich ein Mädchen in Männerkleidern.
    Verstehst du kein Englisch?, fragte sie.
    Doch, sagte er.
    Dann hol Steine, sagte sie, und er ging.
    Draußen vor dem Haus standen die Männer im Halbkreis um einen der Ihren herum, der einen Stein geschultert hatte. Er nahm drei Schritte Anlauf und warf den Stein so weit er konnte. Ein anderer markierte mit einem Stock die Weite, dann hob er den Stein auf und machte sich seinerseits für den Wurf bereit.
    Martens sammelte geeignete Steine für den Grill, auf dem diesmal fünf Hähnchen Platz finden mussten. Er musste viele Steine sammeln, das war gut, es half gegen die Kälte. Er schleppte eine erste Ladung Steine in den Hof, bei Weitem noch nicht genug, er brach wieder auf. Er achtete darauf, warm zu bleiben, ohne ins Schwitzen zu geraten.
    Die Steinstoßer betrieben ihr Spiel mit großem Ernst. Manchmal, bei einem besonders spektakulären Wurf, ließen die Männer sich zu einem anerkennenden Kommentar hinreißen, aber laut wurden sie nie. Man konnte den Paschtunen nicht vorwerfen, dass sie ihr Temperament nicht im Griff hatten. Selbst bei dem Hundekampf, den Martens einmal gesehen hatte, in einem Dorf nördlich von Kandahar, hatten sich die Zuschauer zusammengerissen. Ein paar Pfiffe, und manchmal, wenn der Kampf besonders dramatisch wurde, ein einheitlicher Aufschrei, aber sonst sehr viel inneres Erleben, an dem man die anderen ungern teilhaben ließ. Die Augen loderten, aber die Münder schwiegen. Das gefiel Martens. Es gefiel ihm, wie ihm der Elefantenbulle gefallen hatte, der in Kenia aus einem Gebüsch hervorgebrochen war und sich vor das Auto gestellt hatte, mit nach vorn gestellten Ohren und wippendem Rüssel. Martens war ergriffen gewesen von dem heiligen Ernst, mit dem das Tier seine Herde, seine Welt, verteidigt hatte.
    Chargul verteilte mit einem Ast die Glut gleichmäßig und begann mit den Steinen den Grill zu bauen. Es waren aber immer noch zu wenige, und so begab Martens sich erneut auf Steinsuche. Er fand einen besonders guten, kantig, länglich, und freute sich darüber. Nach Steinen Ausschau halten, in der Abendkälte – einfach Steine suchen.
    Als er die Ausbeute in den Hof tragen wollte, bemerkte er, dass die Männer ihr Spiel unterbrochen hatten. Der, der den Stein hätte werfen sollen, ließ ihn fallen und blickte wie die anderen in den Himmel. Der Himmel war im Zentrum noch blau, und durch dieses helle Blau glitt ein Flugzeug. Der Form nach war es kein Verkehrsflugzeug, die Flügel waren zu lang, und es flog zu langsam. Es flog wie gestern der Steinadler, unbeirrt und sich seines Weges sicher.
    Ein Aufklärer, dachte Martens. Amerikaner.
    Ihm wurde unwohl bei der Vorstellung, dass dort oben auch er als Ziel erfasst wurde. Friendly

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