Das Leuchten in der Ferne: Roman (German Edition)
einer stützte die Stirn auf seine Hand. Chargul und die beiden anderen waren nicht hier. Der Wind machte kleine Geräusche, weiße Wolken bauten sich auf.
Alles in Ordnung?, fragte Martens leise, um die Ruhe nicht zu brechen.
Nein, sagte Miriam. Setz dich weg von mir.
Er setzte sich weg.
Die Männer hatten ihre Waffen abgelegt, sie ergaben sich der Müdigkeit. Einer verharrte mit halb offenen Augen wie ein Kind, das während einer Autofahrt vom Schlaf hypnotisiert wird. Ihm fielen die Augen zu. Er erschrak, weil er eingeschlafen war, blickte noch einmal mit leeren Augen in die Welt, von der er sich so leicht nicht trennen konnte. Dann sank ihm das Kinn auf die Brust, und er war endlich erlöst.
Einer nach dem anderen schliefen sie ein. Münder standen offen, Köpfe ruhten auf der eigenen Schulter, Arme lagen da mit nach oben gedrehten Handflächen. Es war ein tiefer Schlaf, in den sie gefallen waren, sie erwachten nicht einmal, wenn sie aus der Sitzhaltung umkippten und ihr Kopf auf dem Bein des schlafenden Nebenmannes zu liegen kam. Die Waffen lagen herrenlos herum. Martens hätte sich eine greifen und die Männer erschießen können, es wäre ganz leicht gewesen. Er hoffte, dass er sich später nicht vorwerfen musste, es nicht getan zu haben. Er fragte sich, ob er es überhaupt hätte tun können, unter welchen Bedingungen. Wenn ich wüsste, dass sie vorhaben, uns zu töten, dachte er, würde ich es tun? Er blickte in die schlafenden Gesichter, im Schlaf waren es Menschen, die sich von ihren Taten und Absichten gelöst hatten. Wenn man sie als Schlafende erschoss, erschoss man sie im Moment der Unschuld. Aber dennoch, er wäre fähig gewesen, es zu tun. Aber nicht für sich, nicht um sein Leben zu retten. Für Miriam schon. Für jemand anderen hätte er die Schlafenden töten können, aber nicht für sich.
Es ist heller Mittag, und sie sind völlig erschöpft, dachte er. Sie haben letzte Nacht nicht geschlafen, sagte er leise zu Miriam. Das heißt, sie waren die ganze Nacht unterwegs. Das haben sie nicht ohne Grund getan. Du hast ja gesehen, wie gefährlich es bereits am Tag ist, hier im Gebirge rumzulaufen, auf diesen schmalen Wegen. Sie sind in der Nacht marschiert, weil sie nicht entdeckt werden wollten. Das bedeutet, dass die Amerikaner in der Nähe sind.
Die Amerikaner, sagte sie. Du machst dir Gedanken über die Amerikaner.
Ich mache mir Gedanken darüber, warum die Männer so müde sind.
Und warum?, fragte sie. Warum machst du dir Gedanken darüber?
Weil es vielleicht wichtig ist, sagte er. Sie saß nicht weit von ihm weg, aber er empfand es als weit. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, sie verhüllte es mit dem Schleier des Tschadors auch vor ihm.
Ein Tipp
Der junge Talib, den Dilawar vorhin ausgeschickt hatte, kehrte zurück. Er führte Evren in den Innenhof.
Miriam stand auf.
Leise sagte sie seinen Namen, aber es war mehr eine Frage. Sie musste sich an den Anblick gewöhnen: dass dieser verwilderte Mann Evren war.
Er hatte kein Gesicht mehr, es war zugewachsen mit strähnigen schwarzen Haaren und einem Bart. Die zerschlissenen Jeans, auf dem fleckigen Sweatshirt stand Alabama, einer der Schuhe war an der Seite aufgerissen. Sie ging auf ihn zu und umarmte ihn, sie nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände, sie sagte, Evren, Evren, aber sie küsste ihn nicht. Martens musste dennoch einen dummen Schmerz niederkämpfen. Sie umarmte doch nur den Vater ihres Kindes, und nicht nur das gemeinsame Kind verband sie mit Evren, auch die gemeinsame Vergangenheit, die guten, aber auch die schlechten Zeiten, die schlechten waren sogar verbindender als die guten. Es hatte nichts mit Liebe zu tun, deswegen küsste sie ihn nicht. Der dumme Schmerz war aber hartnäckig, er ließ sich nicht so leicht wegargumentieren. Miriam liebte Evren vielleicht nicht mehr, aber was war Liebe schon gegen das Band einer gemeinsamen Geschichte. Evren und sie waren miteinander verbunden, während zwischen ihm und Miriam das Gemeinsame erst im Entstehen war. Wenn Martens sich vorstellte, wie viele Erinnerungen Miriam mit Evren teilte und wie wenige mit ihm, kam ihm sein Schmerz gar nicht mehr so dumm vor.
Evren stieß Miriam weg, aber selbst in dieser rüden Geste zeigte sich die Verbundenheit der beiden. Schön, dich zu sehen, sagte Evren, er sprach, als habe er etwas im Mund. Ja wirklich! Wirklich schön, dich zu sehen. Ich hab dich nämlich vermisst. Drei Monate lang hab ich dich jeden Tag sehr vermisst. Mein Herzchen.
Ich
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